Rund 3.400 Menschen halfen während der Nazizeit, Juden in Österreich zu überleben. Edeltrud Posiles ist eine von ihnen. NU hat die 92-Jährige besucht und mit ihr über zweieinhalb Jahre Versteckspiel in der Wiener Neubaugasse gesprochen.
Von Hanna Ronzheimer
Edeltrud Posiles kocht weder Kaffee noch Mahlzeiten selbst. Das habe sie immer den Männern überlassen, sagt die 92-Jährige, und ihre hellblauen großen Augen funkeln belustigt. Schließlich „kann man nur eines, Wissenschaftlerin oder Hausfrau sein“. Die Männer hat sie längst überlebt, die Wohnung im fünfzehnten Bezirk ist dieselbe geblieben und offenbart eine erstaunliche Fähigkeit für jemanden in ihrem Alter: Ihre eigene Ordnung im Chaos zu führen. Geht es sich finanziell aus, fährt die studierte Kunsthistorikerin und Bildhauerin an kunstgeschichtlich interessante Orte. Und zwar allein. Die Reisegruppen, sagt sie, machen immer nur einen winzigen Teil von dem, was sie gern tun möchte. Mutig und eigensinnig war sie wohl schon immer: Edeltrud ist eine von ungefähr 3.400 Menschen, die in Österreich während des Nationalsozialismus Juden Hilfe geleistet haben, und als eine solche Helferin eine der wenigen noch lebenden Zeitzeugen.
An Reisen war ja lange Zeit nicht zu denken. Für die Wienerin, die seit 1936, damals zwanzig, eine Liebesbeziehung zu dem tschechischen Juden Walter Posiles hatte und mit ihm in Wien lebte, stand höchstens die Flucht nach Übersee in Aussicht. „Den Gedanken zögerte Walter allerdings lange hinaus, er mochte den heißen Süden nicht, und vernünftigen Wein gab es dort auch nicht.“
Und dann war es plötzlich zu spät. Zu spät auch für den Heiratsantrag, den er seiner Verlobten 1938 machte, kurz bevor Mischehen verboten wurden und es somit keine Möglichkeit mehr gab, sich damit vor der aufkommenden Verfolgung zu schützen. Walter musste zurück nach Prag, wo es noch sicher war. Und dann, eines Nachts, stand er mit seinen zwei Brüdern wieder am Wiener Westbahnhof und brauchte Hilfe.
Es war das Jahr 1942, die Nazis hatten mit den Deportationen in Prag begonnen, und auf ihrer Liste standen auch die Brüder Posiles. Diese täuschten Selbstmord vor und flohen nach Wien. Edeltrud versteckte sie in der Wohnung des Verlobten ihrer Schwester, dem Nazi Friedrich Kuntz, bei dem sie in der Neubaugasse zur Untermiete wohnte. Der war an der Front und wusste von nichts. Für sie und ihre Schwester begannen zweieinhalb Jahre, die sie nachdenklich als „irgendwie lustig“ beschreibt, und deren Erzählung ihr des Öfteren ein Lachen entlockt, begeistert über die famosen Einfälle von Widerstandsaktionen, Glück und Gewitztheit, die aber gleichzeitig eine Zeit ständiger Angst und Ungewissheit war. Eine Zeit, in der man Zyankalikapseln um den Hals trug und wusste, dass, fliegt man als Helfer oder U-Boot auf, die einzige Hoffnung darin besteht, diese Kapsel noch rechtzeitig schlucken zu können.
Von den 176.034 Juden, die 1934 in Wien lebten, waren nach Kriegsausbruch noch 7.000 übrig – die Mehrheit hatte das Land bereits verlassen. Tausend von ihnen überlebten den Krieg, entweder in Mischehen oder als U-Boote. Versteckt wurden sie von Menschen, die in überzeugter Gegnerschaft zum Regime standen, fromm waren oder einfach nur Mitgefühl empfanden. Oft bestand schon vorher ein persönliches Naheverhältnis, wie auch bei Edeltrud und Walter.
„Wir haben uns vereinbart, dass wir uns nicht trennen, sondern dass wir das zusammen durchstehen werden, auf Leben und Tod, und wie, das hat sich dann im Laufe der Zeit herausgestellt, denn: Man kann natürlich nicht jemanden in einen Kasten setzen und sagen, warte hier, bis der Krieg aus ist. Es ist unglaublich viel, was ein Mensch braucht, geschweige denn, was drei brauchen.“
Dass die Lebensweise von Anne Frank, dem wohl berühmtesten UBoot, nicht als exemplarisch gelten kann, meint auch Mag. Brigitte Ungar- Klein: „Im Wesentlichen waren mehrere Beherbergungsmöglichkeiten und Helfer erforderlich, hinter einem versteckten Kasten oder einer zugemauerten Tür – so überlebten nur relativ wenige Menschen .“ Auch die drei Brüder Posiles nicht. Sie bewegten sich, als Nazis verkleidet und mit falscher Identität, relativ frei in der Stadt. Nur im Haus passten sie auf, von niemandem gesehen zu werden.
Wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, geht man allerdings sogar bis unter die Erde. Bekannt wurde das Schicksal von „Josef“, der sich in einer Gruft auf dem Wiener Zentralfriedhof versteckte. Auch Gartenhäuser, und natürlich Keller, eigneten sich als Unterschlupf.
85 Personen zeichnete Yad Vashem mittlerweile als österreichische „Gerechte unter den Völkern“ aus, unter ihnen auch Edeltrud Posiles. Eine Sammlung deren Lebensgeschichten hat Moshe Meisels in seinem Buch „Die Gerechten Österreichs: Eine Dokumentation der Menschlichkeit“ (erschienen 1996) herausgegeben. Als Bekannteste unter ihnen gelten wohl Ella Lingens, Dorothea Neff, Gottfried von Einem und Hermann Langbein. Die Helfer waren in der Mehrzahl jedoch einfache Arbeiter und Angestellte. Eine ganz wichtige Rolle spielten dabei Hausbesorger/innen: Ungar-Klein machte in ihren Recherchen 34 von ihnen in Wien aus. Mit Hilfe des Hausmeisterehepaars Nahodil überlebte auch Heinrich Ehlers, der mit seinen Geschwistern den Krieg im Keller eines Hauses im fünften Bezirk verbrachte. Die Kellerfenster immer verhängt, bekam der 1939 geborene in seinen ersten sechs Lebensjahren nichts von der Außenwelt mit. Spielen durfte er im Kohlenkeller, Jahreszeiten und Tageslicht kannte er nicht. Allerdings: Das ganze Haus wusste Bescheid und hielt dicht. Vor allem die streng katholischen Nahodils halfen mit Lebensmitteln, Kleidung, und bei der Geburt der Schwester Hermine im Frühling 1944.
Nach außen hin war Verschwiegenheit oberstes Gebot. Man war isoliert. „Anfangs hatten wir gar niemanden und wollten auch niemanden haben, weil wir Angst hatten. Je mehr Leute man einweiht, desto größer ist das Risiko“, sagt Edeltrud. Sie und ihre Schwester Charlotte, eine Souffleuse am Wiener Volkstheater, organisierten Verstecke, fälschten Lebensmittelkarten und Pässe. Nach und nach entstand ein Netzwerk aus über einem Dutzend Helfern, bis in die Gestapo hinein. Manchmal halfen auch Leute, von denen man gar nichts geahnt hatte. So zum Beispiel, als Walter todkrank war:
„Jeder musste ein Luftschutzkisterl mit Sand neben der Wohnungstür haben, als Brandschutzmaßnahme. Und eines Tages seh ich ein kleines Eckerl von einem Papier aus dem Kisterl herausschauen. Ich zieh es raus, und es stehen Adressen und Telefonnummern von drei Ärzten drauf. Wir haben gleich den ersten genommen. Das war der Dr. Ernst Pick, und der hat sich sofort bereit erklärt, den Walter zu behandeln.“ Die fünf versteckten sich nicht nur, sie trauten sich auch was: Auslandsradio hören und dessen Tipps befolgen. Reißnägel auf wichtigen Straßen streuen. Widerstandsaufkleber in der Stadt anbringen. Telefonleitungen kappen. Und immer wieder gab es Heurigenabende in der Neubaugasse, wo die Brüder, die später in Baden und Wien eigene Unterschlupfe fanden, zusammenkamen. Sich Mut antranken. Denn Versteckte und Helfer befanden sich in ständiger Lebensgefahr. Das war ihnen durchaus bewusst.
„Natürlich hatten wir Angst, aber große Angst hatten wir nicht, denn wir waren fünf, haben uns gegenseitig Mut gemacht, und vor allem, die Posiles waren alle Trinker. Und sie hatten immer zu trinken, und das hat Mut gemacht, Courage gemacht – wir haben uns eigentlich nie gefürchtet.“ Schutzengel war immer wieder auch das Wiener Volkstheater: „Das war irgendwie eine Seligeninsel. Dort gab es höchstens aus Propagandazwecken Nazis. Zwei, drei, nur, damit das Kind einen Namen hatte. Und von dort hat man uns oft Lebensmittelmarken geschickt, durch die Lotte, die hat ja Freunde dort gehabt, und die haben wieder andere Freunde gehabt und das hat sich so fortgepflanzt. Und dort war ja auch die Dorothea Neff, die ihre Freundin in ihrer Wohnung in der Annagasse versteckt hat, den ganzen Krieg über.“
Von der Neff hat sie aber erst später erfahren, so wie von den anderen Helfern. Erst nach dem Krieg wird ihr klar, dass sie nicht die Einzigen waren.
„Wir waren damals überzeugt, dass wir die einzigen U-Boote in Wien sind. Später haben wir andere Leute 20 nu 3·2007 kennen gelernt, die mit U-Booten in Kontakt waren.“
1000 U-Boote überlebten den Spuk, wie Edeltrud es nennt. Davon 60 Kinder bis 14 Jahre und 100 Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren. 16 Geburten gab es im Untergrund, die letzte im April 1945. An die 100 Paare schlossen nach 1945 eine Ehe, wobei sich auch U-Boote und Helfer zusammentaten, recherchierte Ungar-Klein. Einen Tag vor Kriegsende kam Hans, einer der Brüder Posiles, bei einem Bombenangriff ums Leben. „Das größte Unglück in dem ganzen Glück von Hitlers Ende“, meint Edeltrud.
„Denn wir hatten gesagt: Wenn der Hitler ex geht, dann saufen wir uns einen Rausch an, dass wir unterm Tisch liegen. Und wir waren dann so traurig, wir haben nix getrunken, haben nicht unterm Tisch gelegen, haben uns nicht gefreut, dass der Hitler ex war. Das war uns dann alles wurscht.“
Seit den 1980er Jahren sind immer wieder österreichische und deutsche Medien an ihrer Geschichte interessiert. 2005 sendete der ORF den Film von Helene Maimann „Die Sterne verlöschen nicht“, in dem ihre und andere U-Boot Geschichten zusammen mit Schülern aufgearbeitet wurden. Das Thema ist ihr ein großes Anliegen, denn es sei „die Geschichte aller“, nicht nur ihre.
Ein bisschen beantwortet sich die Frage, warum damals nicht mehr Menschen Hilfe geleistet haben, auch mit einem Blick in die Gegenwart: „Es hat verschiedene Reaktionen auf meine Geschichte gegeben“, sagt Edeltrud. Gerade Geschäftsinhaber seien auf sie zugekommen. Jener Geschäfte, in denen sie Stammkundin ist. Sie haben sie beiseitegenommen und gesagt, sie hätten sie im Fernsehen gesehen und sie gingen ja eh konform mit ihr und dem, was sie getan hat, aber sie solle doch besser nicht im Geschäft darüber reden. Denn so mancher Kunde, dem könnte das nicht gefallen.
Edeltrud lacht wieder verschmitzt. So, als würde sie von ihren Widerstandsaktionen von früher erzählen oder davon, dass frau als Wissenschaftlerin auch mit 92 irgendwie nie genug Zeit hat. Manche Leute, sagt sie, werden halt nie gescheit.