Sie haben die Shoa selbst nicht erlebt – und dennoch lebt sie in ihnen weiter. Die Kinder von Holocaust-Überlebenden kämpfen oft zeit ihres Lebens mit verschobenen Generationen-Strukturen. Es sind nicht tatsächliche Krankheitsbilder, die von dieser so genannten „zweiten Generation“ entwickelt werden. Es sind mehr Verhaltensmuster – oftmals geprägt von Ängsten, Übervorsicht und Aggression gegen sich selbst.
Von Alexia Weiss
Erste Anlaufstelle für Shoa-Opfer mit psychischen Problemen bzw. deren Nachkommen ist in Wien das psychosoziale Zentrum ESRA (hebräisch für Hilfe) im zweiten Bezirk. In den vergangenen Jahren wurden bei ESRA rund 160 Vertreter der „zweiten Generation“ betreut, erzählt David Vyssoki, der ärztliche Leiter von ESRA, im Gespräch mit NU.
Was hilft, ist meist die klassische Form der Psychotherapie. Es gibt keine konkreten Krankheitsbilder bei Nachkommen von Überlebenden des Holocaust, betont Vyssoki. Sie entwickelten Neurosen, Psychosen oder sie entwickelten keine Neurosen oder Psychosen so wie alle anderen Menschen auch. Festzustellen ist aber oft „eine höhere Sensibilität“, „eine leichtere Kränkbarkeit“, Ängstlichkeit, die Bereitschaft, sich über manche Dinge „stärker aufzuregen“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut.
Was aber löste diese Verhaltensweisen aus? Es war das familiäre Umfeld, in das die „zweite Generation“ hineingeboren wurde, sagt dazu die einschlägige Fachliteratur. Denn: Es gibt Fälle, in denen Eltern, oft von ihren Erinnerungen an die Nazi-Verfolgung gequält, geringe emotionale Reserven hatten – sie konnten ihren Kindern also nicht mit jener Wärme und Offenheit begegnen wie nicht derart traumatisierte Menschen.
Ganz im Gegenteil: Oftmals wurde nun von den Kindern erwartet, den Eltern bei deren Schwierigkeiten zu helfen. Das Grenzensetzen bereitete den Eltern Probleme und wurde entweder zu rigide oder zu ineffektiv gehandhabt. Und dann gab es auch jene Fälle, in denen von den Kindern erwartet wurde, ermordete Familienangehörige zu verkörpern. Symbol dafür: Nicht selten wurden Angehörigen der „zweiten Generation“ Namen von in der Shoa zu Tode gekommenen nahen Verwandten gegeben. Die Reaktion der Kinder: Sie wurden entweder apathisch oder depressiv oder benahmen sich hyperaktiv.
Bernard Trossmann schilderte 1968 Beobachtungen an Jugendlichen in der Montrealer „McGill Student Mental Health Clinic“ folgendermaßen: Er berichtete von Eltern, die ihre Kinder als Auditorium für ihre sich unbarmherzig wiederholenden schrecklichen Verfolgungserlebnisse benutzten. Die mögliche Konsequenz: Depressionen. Denn die Jugendlichen fühlten sich schuldig, ein besseres Schicksal erfahren zu haben als ihre Eltern.
Andere Eltern wiederum seien ihren eigenen Verlustängsten begegnet, indem sie sich „extrem überfürsorglich“ verhalten haben. Sie warnten die Kinder ständig vor drohenden Gefahren. Dadurch entwickelte ein Teil der davon betroffenen „zweiten Generation“ leichtere Phobien, andere wiederum versuchten sich in immer währenden Kämpfen gegen die Übervorsichtigkeit der Eltern zu wehren.
Ähnliches ergaben auch die 1979 veröffentlichten Untersuchungen der Psychoanalytikerin Ilse Grubrich-Simitis. Die Kinder seien „unaufhörlich überfordert“ worden, etwa durch die Erwartung, für ihre Eltern „die Brücke zum Leben zu sein“. Das Resultat: Die Kinder entwickelten eine „Trennungsschuld“ gegenüber den Eltern. Der normale Ablösungsprozess griff also nicht – denn die Entfernung des Kindes vom Elternhaus wurde als Bedrohung des Familiengleichgewichts empfunden. Damit einher ging aber auch die Schwierigkeit der Kinder, Aggressionen zu zeigen. Man wollte gegen die Eltern, die schon so viel mitgemacht hatten, nicht offen rebellieren wie andere Jugendliche. Die dennoch bestehenden Aggressionen wurden stattdessen entweder unterdrückt oder auf andere Menschen außerhalb der Familie oder auf die eigenen Kinder oder Geschwister verlagert.
Ein weiteres Phänomen: Konfrontiert mit frustrierenden Situationen, reagierten die Nachkommen von Shoa-Überlebenden nicht mit Aggressionen nach außen, sondern mit Aggressionen gegen sich selbst. „Sie nahmen die Schuld auf sich“, heißt es dazu in einer israelischen Studie aus dem Jahr 1981. Das wiederum führte à la longue zu Schuldgefühlen und Depressionen.
Und auch in die Beziehungen der „zweiten Generation“ spielen die Traumata der Eltern mit hinein, sind Experten überzeugt. Das beginnt damit, dass diese Generation im Kindesalter sich oft als „anders“ und als „Außenseiter“ empfunden habe. Im Erwachsenenalter machte und mache wiederum oft die nicht erfolgte Ablösung Schwierigkeiten beim Eingehen von Beziehungen. Und lasse man sich dann auf ein Liebesverhältnis ein, werde oftmals die Schwäche der eigenen Identität enthüllt.
Manche Vertreter der „zweiten Generation“ benutzten aber auch gerade die Wahl ihres Lebenspartners, um aktiv gegen die Eltern zu rebellieren – dann nämlich, wenn sie sich für einen nichtjüdischen Partner entschieden. Ihnen war zuvor von den Eltern vermittelt worden, dass diese eine solche Entscheidung nicht ertragen könnten. Doch die Konsequenzen hatten dann ohnehin die Kinder auszubaden. Denn, so schrieb Günter Reich 1987 in seiner Untersuchung von Partnerwahl und Ehekrisen: „Differenzen der Herkunftsfamilien in den Lebensstilen und Wertvorstellungen, die beide eng mit dem Gefühl familiärer und individueller Identität verbunden sind, führen zu Konflikten in der Paarbeziehung.“
Doch es gibt auch andere Beispiele. Statt mit Schuldgefühlen und Ängsten auf die Verhaltensweisen der Eltern zu reagieren, entwickelten andere Vertreter der „zweiten Generation“ das Bedürfnis, helfende Berufe auszuüben. Wieder andere gingen in ihrem Engagement für den Staat Israel auf. Und jene, die aufhörten, gegen ihre jüdische Identität zu rebellieren, hatten und haben die Möglichkeit, über religiöses, kulturelles oder politisches Engagement ihr Jüdischsein auszudrücken und darin Sinn zu finden.