Die eigentliche Errungenschaft der Debatte um gestürzte Denkmäler ist die Tatsache, dass sie überhaupt geführt werden kann.
Von Mark Elias Napadenski
Im vergangenen Sommer hatte die Welt andere Sorgen als politischen Ikonoklasmus. Die Berichterstattung wurde immerhin von einer Pandemie dominiert. Dennoch waren im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung auch Bilder von scheinbaren Nebenschauplätzen zu sehen: von Menschen, die im Begriff waren, Denkmäler zu stürzen.
So schien es zumindest im Mai 2020, als Demonstrant*innen Statuen von Sklavenhändlern, Kolonialisten, Massenmördern – alles weiße Männer – niederrissen. Dekolonialisierung als Begriff ist längst im Mainstream angekommen. Doch was ist, wenn lediglich Schande bleibt? So wie im Fall der Karl-Lueger-Statue auf der Wiener Ringstraße. Wenn als einzige Reminiszenz des Aufbegehrens ein Graffiti auf der Statue bleibt? Wenn die Forderungen, weil populär, zu einem rasch erstellten Instagram-Post werden?
Der Sturz – und der Wiederaufbau – von Herrschaftssymbolen, Statuen und Denkmälern wird gefordert, seit es solche gibt. Veränderungen im öffentlichen Raum, den Denkmäler einnehmen, rufen Stimmen hervor, die auf Mitgestaltung drängen, und werfen zusätzlich Fragen auf: Was soll sichtbar sein und was nicht? Ab wann muss eine Statue den Platz räumen oder einer anderen weichen, und wie sollte ein differenzierter Diskurs über das historische Stadtbild aussehen? Natürlich wird es auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten geben, weder im Feuilleton noch in wissenschaftlichen Debatten, und schon gar nicht – oder eben dort – im Wohnzimmer und auf der Straße. Hier geht es nämlich nicht um Fakten. Es geht um Deutungshoheiten, um Repräsentation und den Kampf gegen die Unterdrückung.
In den ehemaligen Südstaaten der USA wurden im vergangen Jahr die Statuen von Sklavenhändlern und Dixie-Generälen, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften, abgerissen. Diese Denkmäler wurden teilweise bis in die 1960er Jahre aufgestellt, also hundert Jahre nach dem offiziellen Ende der Sklaverei und in einer Zeit, als in den USA noch eine aktive Rassentrennung herrschte. Bis heute sterben vor allem in den ehemaligen Südstaaten täglich Schwarze, weil sie strukturellem Rassismus ausgesetzt sind. Dieser ist Teil der Debatte um den Denkmalsturz und lässt eine historische Kontinuität zu den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart erkennen.
Ausgeblendet und beleuchtet
Das Stürzen von Kolumbus-Statuen in den USA wirkt im Gegensatz dazu eher anachronistisch. Ein ähnliches Bild lässt sich in Großbritannien betrachten: In Bristol wurde die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel gekippt und im Hafen von Bristol versenkt. Zeitgleich wurde in Deutschland der Abriss mehrerer Bismarck-Statuen gefordert, während im Zuge des Umbaus des Humboldt-Forums darüber diskutiert wurde, welche Ausstellungsstücke aus der Kolonialzeit stammen und unrechtmäßig aus ehemaligen deutschen Kolonien entwendet wurden. In Österreich wird die Debatte um Karl Lueger aufgewärmt, während in Russland Lenin-Statuen sukzessive russisch-orthodoxen Kirchen weichen müssen. In der Sowjetära hingegen war die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale von Stalin abgerissen worden, um einer monumentalen Statue Lenins Platz zu machen, die jedoch nicht fertiggestellt wurde – und in 1990er Jahren wieder der rekonstruierten Kathedrale weichen musste. Seit dem Byzantinischen Reich mag er als politische Tradition gelten: der Ikonoklasmus. Ständig werden Denkmäler gestürzt und wieder errichtet, umdefiniert, neu gedeutet, ausgeblendet und beleuchtet.
Geschichte wird konstant neu verhandelt. Dass dies nun auch auf anderer Ebene, in sozialen Medien von einer sehr jungen Generation, aufgegriffen wird, ist eine dem Diskurs dienliche Tatsache. Das Problem liegt in der Langlebigkeit des eigenen Interesses: Die einen können sich daran erinnern, dass politischer Ikonoklasmus auf unterschiedlichen Ebenen zu unterschiedlichen Zeiten existiert, während die anderen ihrer Forderung nach Gleichberechtigung und Sichtbarkeit mit einem „Like“ Ausdruck verleihen. Andere wiederum möchten sich durch das neue Interesse an alten Debatten bloß profilieren.
Ob die Statuen im Endeffekt stehen bleiben oder nicht, ist nebensächlich. Es geht darum, die Perspektive auf unsere Geschichte immer wieder neu auszuloten. Außerdem lassen sich viele dieser Beispiele eigentlich nur schwer vergleichen. Gemeinsam ist ihnen die Funktion als ideologisches Reißbrett, anhand dessen sich identitätsstiftende Positionen beziehen lassen.
Artefakte aus düsteren Zeiten
Wie bei einem Seismografen, der die Erschütterungen der Gesellschaft anzeigt, können die Verhandlungen beobachtet werden: Die Linien, an welchen diskutiert wird, geben Auskunft über Funktionalität der Kommunikation der verschiedenen Interessengruppen. Die wahre Errungenschaft ist, dass diese Debatte überhaupt geführt werden kann; und um diese Möglichkeit gilt es zu kämpfen, wenn es neben den Diktaturen dieser Welt eng wird. Nicht umsonst werden wohl am öftesten Statuen besiegter Diktatoren vom Podest gekippt: Stalin, Franco, Saddam Hussein oder Enver Hoxha. Die übriggebliebenen Artefakte aus düsteren Zeiten sind es, die einem diese Tatsache vor Augen führen.
All dem haftet, betrachtet man die Szenerie des vergangenen Jahres, ein Schein des Episodischen an. Dabei ist es nachvollziehbar, dass in einem solchen Jahr die Wogen hochgehen und sich lange geführte Debatten zuspitzen. Aber was geschieht, wenn tatsächlich nur die Schande bleibt? Wie soll damit umgegangen werden, wenn die Statuen von Antisemit*innen und Massenmörder*innen stehen bleiben?
Die Aneignung des öffentlichen Raums steht uns frei. Die Etablierung eines neuen Ortes durch seine Funktionalität lässt sich ohne materiellen Eingriff durchführen, aber möglicherweise geht es vielen gar nicht um die echte Auseinandersetzung mit der Geschichte. Vielleicht geht es doch eher um Geschichtsbeschönigung, um die plastischen Eingriffe einer Gesellschaft an ihren Denkmälern in einer sehr belastenden Gegenwart.