Wenn die Ostküste wieder einmal schuld ist

Lehmann Brothers, Alan Greenspan, Bernard Madoff: Rund um die Wirtschaftskrise gibt es viele jüdische Akteure. Besteht die Gefahr eines wieder erstarkenden Antisemitismus?
Eine Analyse von Eric Frey

Die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise ist nicht nur ein ökonomisches und politisches Jahrhundertereignis, sondern auch ein groß angelegtes Experiment in angewandter Geschichtsschreibung. Vieles, was heute geschieht, erinnert an die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre. Und die Bemühungen der Politik orientieren sich an der Frage, wie man jene Fehler, die damals aus einer Rezession eine katastrophale Depression gemacht haben, diesmal vermeiden kann. Anders als 1930 senken die Notenbanker diesmal die Zinsen radikal und nehmen die Regierungen Milliardenschulden auf, um die Konjunktur zu beleben. Fast täglich wird vor einem Rückfall in den Protektionismus gewarnt, der damals so verheerend gewirkt hat.

Einem anderen Schreckenssymptom der Dreißigerjahre wird derzeit hingegen noch wenig Augenmerk gewidmet: dem Erstarken des Antisemitismus. Es war ja nicht nur in Deutschland, dass Juden zu Sündenböcken für die ökonomischen Probleme gestempelt wurden. In ganz Europa wuchs der Judenhass weiter an und vergiftete auch in demokratischen Staaten wie England und Frankreich zeitweise das Klima. Und auch die USA erlebten in den Dreißigerjahren eine Phase, in der Antisemitismus sich zum Massenphänomen auswuchs und auch politisch gefährliche Dimensionen annahm.

Dies wurde vor allem von der Person des kanadisch- amerikanischen Priesters Charles Coughlin getragen, der Woche für Woche in seinen Radiopredigten gegen Juden hetzte. Der katholische Geistliche war kein Randphänomen, sondern ab Mitte der Dreißigerjahre – auch dank geheimer Unterstützung aus dem Dritten Reich – eine zentrale Figur in der amerikanischen Politik. Seine gehässigen Worte fielen auf einen fruchtbaren Boden. Denn Antisemitismus hatte in den USA eine lange Tradition und wurde durch den Zorn der Bevölkerung auf die Wall-Street-Financiers, denen viele die Schuld an der Depression und Arbeitslosigkeit zuschoben, weiter angeheizt.

Coughlin verlor zwar ab 1940 immer mehr an Einfluss und nach dem Kriegseintritt der USA wurde seine Radiosendung 1942 eingestellt. Aber seine Hetze trug dazu bei, dass die Roosevelt-Regierung den meisten jüdischen Flüchtlingen die Einreise verwehrte – und manche sogar zurück nach Europa und damit in die Gaskammern schickte. Philip Roths erschreckende Vision einer offen antisemitischen Regierung in seinem Roman „The Plot Against America“ mag zwar erfunden sein, hatte aber einen sehr realen historischen Hintergrund.

Potenzielle Parallelen zu heute drängen sich auf. Schließlich war es die einst von deutschen Juden gegründete Investmentbank Lehman Brothers, deren Exzesse und Kollaps im September 2008 erst eine Bankenkrise in eine globale Wirtschaftskrise verwandelten. Die Hauptverantwortung für viele wirtschaftspolitische Fehler wird von mehreren Kommentatoren dem ehemaligen Vorsitzenden der USNotenbank Federal Reserve, Alan Greenspan, zugeschoben; und auch sein Nachfolger Ben Bernanke ist Jude. Seit der Verhaftung des Milliardenbetrügers Bernard Madoff im Dezember 2008 haben die Exzesse der vergangenen Ära schließlich ein prägnantes Gesicht erhalten – und es ist ein jüdisches. Der Boden wäre eigentlich aufbereitet für ein Wiedererwachen des Antisemitismus, sowohl in Europa als auch in den USA.

Tatsächlich warnte der Präsident der Anti-Defamation League, Abraham Foxman, im vergangenen Herbst genau vor dieser Entwicklung und zitierte dabei einige anonyme Postings und Videos auf YouTube. Aber von einem Breitenphänomen ist bisher nichts zu merken. Der böse Geist des Antisemitismus ist in der Flasche geblieben – in den USA ohnehin, und trotz aller anti-kapitalistischen und anti-amerikanischen Emotionen auch in Europa. Der Satz von der Geschichte, die sich fast zwangsläufig wiederholt, ist doch nur ein Klischee.

Es hat sich etwas geändert in den vergangenen 80 Jahren. Damals war der offene Judenhass in allen Industriestaaten, selbst in den USA, ein Leitmotiv der Politik. Heute mögen diese Vorurteile immer noch latent vorhanden sein, aber sie werden im öffentlichen Diskurs nicht mehr ausgesprochen.

Auch der Charakter des Antisemitismus hat sich gewandelt. In Europa gehen antijüdische Hetze und Gewalt meist von Gruppen aus, die Israel und seine Verbündeten im Visier haben – nicht die Wall Street. Christlicher Antisemitismus wurde zunehmend vom islamischen Anti-Judaismus verdrängt, und dessen Träger sind mit anderen Themen als der Finanzkrise beschäftigt. Gerissene jüdische Financiers gehören zwar immer noch ins Repertoire antisemitischer Vorurteile, aber sie werden von den Bildern des grausamen israelischen Soldaten und des perfiden Einflüsterers der „Israel Lobby“ in den Korridoren der Macht in Washington überschattet. Das macht den neuen Antisemitismus nicht sympathischer, aber weniger anfällig für Wirtschaftskrisen. Damals wie heute waren viele jüdische Banker und Investoren am Börsen- und Bankenkrach beteiligt, aber die Mehrheit der Verantwortlichen waren nichtsdestoweniger Nicht-Juden. Nur wenn in den Köpfen der Menschen die Juden als Sündenböcke schon festsitzen, kann aus dieser Konstellation das Bild einer jüdischen Verschwörung entstehen.

Im Madoff-Skandal ist der Hauptschuldige zwar Jude, und alle rund um ihn waren es auch. Aber in diesem Fall war es möglicherweise ein Glück, dass auch der Großteil der Opfer seines Pyramidenspiels jüdische Investoren oder Institutionen waren. Wäre es anders gewesen, hätten wir zwar auch keine Pogrome auf den Straßen von Manhattan erlebt, aber zumindest wäre die Sorge vor antisemitischen Reaktionen berechtigter gewesen.

Jetzt kann man nur hoffen, dass es den Politikern und Notenbankern tatsächlich gelingt, die Weltwirtschaft in Bahnen zu lenken, die nicht mehr jenen der Dreißigerjahre gleichen. Denn auf das soziologische Experiment, in dem getestet wird, ob unsere Gesellschaften im Falle dramatischer Arbeitslosigkeit und Verelendung wirklich gegenüber dem antisemitischen Virus immun sind, wollen wir alle gerne verzichten.

BUCHTIPP
Unser Autor Eric Frey, Chef vom Dienst bei der Tageszeitung „Der Standard“ und profunder Kenner der USA, hat ein neues Buch geschrieben:
„Mit der Krise leben lernen.
Finanzpolitik und Geldanlage in stürmischen Zeiten“ ist im Linde-Verlag erschienen und kostet 25,60 Euro.

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