Die Coronakrise wäre eine Chance für die Linken. Doch die verzetteln sich in Identitätsdebatten.
VON BERND STEGEMANN
Der Investmentbanker Warren Buffett hat einst die Lage linker Politik auf den Punkt gebracht: „Es herrscht Klassenkampf, und meine Klasse, die der Superreichen, gewinnt.“ Diese Aussage ist so unverschämt wie wahr. Für linke Politik stellt sich darum die Frage, wieso ein Banker vom Klassenkampf spricht und wieso er berechtigt annimmt, dass seine Klasse ihn gerade gewinnt, während auf linker Seite sowohl das Wort Klassenkampf uncool ist als auch ans Gewinnen schon lange niemand mehr glaubt.
An dieser Stelle wären also die linken Parteien gefragt. So wie sie im alten Kapitalismus mithalfen, ein Klassenbewusstsein zu erzeugen, um die rivalisierenden Interessen der Ausgebeuteten zu bündeln, müssten sie im neuen Kapitalismus auf der Höhe der Konflikte und ihrer Komplexität agieren. Und damit ist man im Zentrum der Krise linker Politik angelangt. Warren Buffett kann seinen Sieg so selbstsicher herausposaunen, weil seine Klasse die älteste aller Kriegslisten angewendet hat: „Säe Zwietracht unter deine Feinde.“
Die gemeinsame Macht der Linken ist zerbrochen, und der Zankapfel trägt einen sperrigen Namen: „Identitätspolitik“. Gemeint ist damit eine Politik, die aus der ersten Person Singular oder Plural entsteht. „Ich als …“ oder „Wir als …“ wird zum Ausgangspunkt des Handelns. Die Stärkung der partikularen Interessen ist Kernaufgabe linker Politik, doch zugleich führen die Sonderinteressen zu immer neuen Frontstellungen innerhalb der linken Klasse. Und als wäre das nicht schlimm genug, hilft die Zersplitterung vor allem der Kapitalseite, da sie die Bruchlinien strategisch für ihre Interessen nutzt. Globaler Kapitalismus bedeutet: Amazon, Google und Co. sind gegen Diskriminierung, bekämpfen aber Gewerkschaften und vermeiden Steuerzahlungen.
Der linke Ausweg aus diesem Patt besteht bisher darin, alle Interessen als gleichberechtigt anzuerkennen. Was abstrakt sinnvoll klingt, erweist sich als politische Sackgasse. Denn erstens sind nicht alle Interessen gleichzeitig durchzusetzen, und zweitens werden sie von der Öffentlichkeit unterschiedlich unterstützt.
Gewerkschaften sind uncool
Nachdem im Bundestag das Gesetz zur „Ehe für alle“ beschlossen worden war, knallten die Sektkorken bei Abgeordneten und Journalisten. Kein Kampf für die Erhöhung der Renten oder Hartz-IV-Bezüge hat vergleichbare emotionale Reaktionen hervorgerufen. Es gibt offensichtlich die coolen und die uncoolen Interessen. Gewerkschaftsarbeit führt die uncoole Liste an; alles, was mit sexueller oder migrantischer Identität zu tun hat, findet vielfältige Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Hier kommt wieder die Klasse von Buffett ins Spiel: Warum wird über manche Identitätsforderungen empathisch berichtet, und warum werden andere Forderungen als graue Mühen abgetan? Die linke, weil materialistische Antwort lautet: Die Befriedigung anerkennungspolitischer Interessen kostet nicht nur kein Geld, sondern poliert auch das Image des Kapitalismus auf.
Einst wollte linke Politik die Lasten und Pflichten in der Gesellschaft solidarisch verteilen, heute wird jeder Einzelne danach beurteilt, ob er der herrschenden Moral genügt. Dass die herrschende Moral die Moral der Herrschenden ist, ist dabei links der Mitte vergessen worden. Klimawandel ist kein Thema nur für wohlhabende Grünen-Wähler. Doch wenn der Klimawandel vor allem dafür herhalten muss, die Preise zu erhöhen und den Lebenswandel der ländlichen Bevölkerung als rückständig zu diffamieren, wird das Thema dazu gemacht.
Chancengleichheit ist kein Thema allein für akademische Debatten, doch wenn sie vor allem in sprachlichen Regulierungen erfolgt, die im Seminar erfunden wurden, wird sie dazu gemacht. Linke Politik ist der Kampf gegen die Interessen des Kapitals. Doch wenn die Mittel, mit denen er geführt wird, dem Kapital nutzen, so breitet sich Frust aus. Dass dieser sich nicht immer auf der Höhe der Sprachsensibilität formuliert, vertieft die Gräben zwischen den Menschen, deren Herz links schlägt, und den linken Parteien, die diese Menschen als unanständiges Volk zurückweisen.
Das tonangebende Milieu, das sich selbst für links hält, ist heute weiter von einem Klassenbewusstsein entfernt, als es die Industriearbeiter des 19. Jahrhunderts je waren. Heute herrscht Verwirrung über die Werte einer gerechten Gesellschaft. So übte emanzipatorische Politik schon immer Religionskritik. Heute gilt alles, was mit dem Islam zu tun hat, für nicht wenige Linke als Tabu. Früher waren Kunst- und Meinungsfreiheit erklärte Ziele einer progressiven Politik. Heute wünschen sich viele Linke eine Einschränkung der Freiheiten, wenn dort Meinungen kundgetan werden, die sie ablehnen. Das erfolgreichste Motto der SPD war „Mehr Demokratie wagen“, heute haben vor allem die linken Parteien Angst vor dem Wähler. Vielen Linken scheint es nicht mehr um die Befreiung der Menschen aus bedrückenden Verhältnissen zu gehen, sondern um die Erziehung ihrer Mitbürger.
Keine politische Ansprache
Sie ziehen ständig neue rote Linien des Sagbaren und alarmieren über jede Grenzverletzung mit Geschrei. Ihre Erregungswellen sorgen dafür, dass sich die unteren Klassen ständig streiten, anstatt ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten. Die „woken“ Linken sind die Kettenhunde des Kapitals, denn sie halten sein Image sauber, indem sie schmutzige Worte anprangern und diese Reinheit als zivilisatorischen Gewinn verkaufen. Die Ausbeutung der Welt steigert sich, aber wir versehen die Ausgebeuteten heute mit einem Gendersternchen.
Die bittere Bestandsaufnahme lautet: Das Klassenbewusstsein der Reichen hat eine Strategie ersonnen, um die Linken an sich selbst zugrunde gehen zu lassen. Aber ich bin noch immer überzeugt, dass die Mehrheit der Europäer ein Volk von heimatlosen Sozialdemokraten ist. Es fehlt ihnen nicht an Gerechtigkeitssinn oder Solidarität, aber es fehlt an einer politischen Ansprache, die ihren Wunsch nach fairem Miteinander in reale Politik ummünzt. Die Bevölkerung ist viel sozialer gesinnt, als es die schwindende Zustimmung für die verbliebenen beiden linken Parteien SPD und Linke vermuten lässt.
Dieser Artikel erschien in der Berliner Wochenzeitung „Der Freitag“ (45/2020). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.