Welches jüdische Wien?

Von Thomas Schmidinger

Ein Reiseführer durch das jüdische Wien läuft immer Gefahr, in die Falle der Trauer der TäterInnennachkommen um die zerstörte „jüdische Kultur“, hinter der die ermordeten Menschen verschwinden, zu tappen. „Jüdische Kultur“ kommt dabei immer nur als Kultur jüdischer Intellektueller, Künstler und Bourgeois vor, für die jüdischen Handwerker, Tagelöhner und Armen ist das Interesse weit geringer. Auch der im Mandelbaum Verlag erschienene Band schrammt haarscharf an dieser Falle vorbei, aber eben nur haarscharf. Allein schon die Tatsache, dass er nicht nur in deutscher Sprache erscheint, sondern auch in englischer Übersetzung, mindert die Gefahr. Schließlich wird das Zielpublikum damit auch auf die Nachkommen emigrierter Überlebender und anderer interessierter LeserInnen aus Israel, den USA und den europäischen Nachbarstaaten ausgeweitet.

Wenn auch der Antisemitismus vor und nach der nationalsozialistischen Herrschaft etwas zu kurz kommt, so scheint es doch legitim, jüdische Kulturgeschichte als primär jüdische Geschichte und nicht als die Geschichte des Antisemitismus darzustellen.

Der Schwerpunkt des Buches liegt zwar, wie bei ähnlichen Projekten üblich, bei der Hochblüte jüdischen Lebens im Wien der ausgehenden Habsburgermonarchie und der Ersten Republik, jedoch wird auch auf jüdische Institutionen nach 1945 eingegangen.

Vor allem der Serviceteil des Buches kann für jüdische BesucherInnen des zeitgenössischen Wien nützlich sein.

Von Nachteil ist dabei nur sein Mangel an Vollständigkeit. So fällt etwa auf, dass jüdische Medien, die sich in der Vergangenheit kritisch mit der Politik des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde auseinander gesetzt haben, wie die Internetzeitung www.juedische.at oder die Zeitschrift NU, genauso ausgespart bleiben wie die einzige liberale Synagoge der Or Chadash, während die Adressen aller orthodoxen Bethäuser angegeben werden. Vielleicht wäre es hier besser gewesen, sich nicht ausschließlich auf die Informationen der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zu verlassen, sondern auch selbst zu recherchieren, um die gesamte Vielfalt jüdischen Lebens in Wien darstellen zu können. Orte des zeitgenössischen jüdischen Wien kommen auch in den Hauptabschnitten des Buches eher zu kurz. Damit läuft auch dieses Buch Gefahr, jüdische Kultur zu musealisieren. Ganz falsch liegt der Band damit jedoch nicht.

Schließlich ist das jüdische Leben nach der Shoah nicht mehr mit jenem vor der großen Vernichtung vergleichbar. Trotzdem gibt es noch und wieder jüdische Menschen und ihre Institutionen, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, als ihnen in diesem Band zukommt.

 

„Jüdisches Wien – Jewish Vienna“

Redaktion: Julia Kaldori

Mandelbaum Verlag

ISBN 3-85476-098-1, Wien 2004

Preis: EUR 15,80

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