Für moderne orthodoxe Jüdinnen hat der Alltag in Wien manche Hürde parat. Gut, dass es jetzt wieder eine Scheitelmacherin gibt, und das Internet, das ohne Grenzen Ideen und Inspiration liefert.
Von Eva Konzett (Text) und Martin Gruber (Foto)
„Ein bisschen ist es wie bei einem Frisör“, Daniela Kaner streicht lachend über das braune Haar, das zur Perücke geknüpft auf dem Styroporkopf sitzt. Viele Perücken tun das, nebeneinander aufgereiht, in dem rosafarben gestrichenen Zimmer, im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Auf der weißen Halterung drapiert, warten sie auf Kundinnen. Blonde, schwarze und eine in Kastanienbraun. Daneben Haarpflegeprodukte, Kämme und Bürsten, Haarfestiger. Mit Daniela Kaner gibt es seit kurzem wieder eine Scheitelmacherin in Wien. Scheitel, so nennen jüdisch orthodoxe Frauen die Perücken, mit denen sie gemäß den Gesetzen der Thora ihr Haar bedecken. Wer in Wien eine neue Perücke kaufen oder die eigene zur Pflege bringen will, kann das nun bei Daniela Kaner tun.
Eine der Kundinnen ist Chava. Sie hat sich im frühen Erwachsenenalter entschlossen, halachisch observant zu leben. Das Haar zu bedecken war für die junge Frau nach der Heirat ein logischer Schritt. Nur eine Perücke in Wien zu kaufen, das machte Schwierigkeiten. Alle paar Wochen kam zwar eine Scheitelmacherin aus Antwerpen, die ihre Ware auch den Wienerinnen anbot. Was Chava damals jedoch fehlte, war das Zusatzangebot, die Dienstleistung über den Verkauf hinaus. „Weil es keine Scheitelmacherin in Wien gab, mussten wir unsere Perücken zur Pflege zu einem Frisör bringen, in der Hoffnung, dass dieser damit umgehen kann“, sagt sie. Die Perücken brauchen eine andere Behandlung als normales Kopfhaar. Sie können verknoten, Haare können ausfallen, das Netz nutzt sich ab. Und: Auch Perücken bekommen Spliss. 1000 bis 1500 Euro kostet das Stück aus Echthaar bei Daniela Kaner. „Jedes verlorene Haar ein Euro“, lacht Chava. Professionelle Hände sind also gefragt.
613 Gebote und Verbote
Ein Zimmer voller Bücher. Links die Titel in lateinischer Schrift, rechts die Bände auf Hebräisch. Chava hat zuvor Kaffee angerichtet, in ihrem grünen Rock und bunter Bluse sitzt die Frau am massiven Wohnzimmertisch, mitten im Zimmer. Man merkt, dass dieser Raum genutzt wird, dass hier Menschen leben. Nein, in einer frommen Familie sei sie selbst nicht aufgewachsen, erzählt Chava. Ihrem heutigen Leben habe sie sich Schritt für Schritt angenähert. Die Kleidervorschriften, etwa knielange Röcke und keine sichtbaren Ellenbogen, befolgt sie seit 2001. Den Begriff Kleidervorschrift mag sie aber nicht. 613 Gebote und Verbote beinhaltet die Thora. Das bedeckte Haar der verheirateten Frauen und die Kleidungsregeln gehören dazu. Isolieren könne man die Vorschriften nicht, erklärt Chava. Das eine hänge immer mit dem anderen zusammen: „Ich entscheide mich ja nicht, mich ‚bescheiden‘ anzuziehen, sondern ich entscheide mich, fromm zu leben“, sagt sie. Wobei fromm zu leben für sie nicht im Widerspruch zu einem modernen Leben steht, wie Chava betont.
Chava und Daniela, zwei junge Jüdinnen in Wien. Das religiöse Bekenntnis mit dem Wiener Alltag in Einklang zu bringen, gestaltet sich manchmal schwierig. Gerade wenn es darum geht, Kleidung und Aussehen nach dem Konzept von „Tzniut“ (Bescheidenheit) zu gestalten. Daniela studiert Musik in Wien. Für sie war es ein langer Prozess, die richtige Strömung im Judentum zu finden. Sie bezeichnet sich heute als modern orthodox, eine Strömung, die die jüdischen Gesetze achtet, gleichzeitig aber die Integration in die säkulare Gesellschaft versucht. In der Außenwelt bewege sie sich heute nicht großartig anders als vor ihrer Hochzeit und ihrer Entscheidung für ein frommes Leben, erzählt sie. Generell achtet sie aber darauf, durch ihren Kleidungsstil nicht aufzufallen. Je nach Mode sei es schwieriger und einfacher, auch in herkömmlichen Geschäften einzukaufen. „In den letzten Jahren sind die Modetrends diesbezüglich aber gut“, sagt sie. In den großen Modeketten Wiens wird man Chava hingegen kaum finden. Ihr reicht als Kriterium nicht aus, dass die Garderobe „tzniusdik“ ist, die Akademikerin achtet zusätzlich auf sozial verträglich hergestellte Kleidung: „Auch wenn ich mir dadurch natürlich einen weiteren Filter einbaue“, sagt sie.
Jüdische Bloggerwelt
Tausende Kilometer entfernt sitzt Sharon Langert in New Jersey und klickt sich durch die neuesten Modetrends. Seit ihrer Kindheit interessiert sich die Amerikanerin für Mode. Seit jeher habe sie deshalb die Balance zwischen stylischem Auftreten und den orthodoxen Werten gesucht, sagt Sharon. Mittlerweile hilft sie auch anderen Jüdinnen dabei: Vor drei Jahren hat Sharon den Blog „Fashion-Isha“ gegründet, der Name ist ein Begriffsspiel aus dem hebräischen Wort „Frau“ und der englischen Bezeichnung für Mode. Damals als die Kinder schon größer waren, wollte sie eine kreative Plattform schaffen für all jene, die Inspirationen suchten, ohne ihre religiösen Werte zu verletzen. Heute hat sie zwischen 50.000 und 60.000 Seitenaufrufe im Monat, mehr als 6000 Facebook-Likes und unzählige Follower auf der Kurznachrichtenseite Twitter. Sharon Langert ist zu einer der bekanntesten Bloggerinnen aufgestiegen, die jüdische Kleidungsvorschriften mit der schnelllebenden Modewelt zu verbinden versuchen.
Sharon beobachtet die aktuellen Trends, sichtet täglich Einträge auf unzähligen konventionellen Fashion- Blogs und Streetstyle-Portalen auf deren Tauglichkeit für das eigene Blog. Kollektionen, Outfits und einzelne Kleidungsstücke, welche den Kleiderregeln entsprechen, setzt Sharon auf Fashion-Isha. „Ich möchte Jüdinnen inspirieren und aufzeigen, dass man sich auch als moderne orthodoxe jüdische Mutter und Frau schön und stylisch kleiden kann“, erklärt die Bloggerin, die selbst Mutter von fünf Kindern ist. Sharon sammelt die Ideen, das Internet verbreitet sie in die ganze Welt. Von Alltagskombinationen über Abendroben und Purim- Tipps, bis hin zu Bastelanleitungen, wie man mit wenigen Handgriffen einen Rock mit Federn auf die richtige Länge bringt. Sharon selbst sieht ihre Webseite als zusätzliches Angebot für modeinteressierte jüdische Frauen, denen die einschlägigen Publikationen wie Vogue und Elle zwar die neuesten Trends präsentieren, die diese jedoch in den meisten Fällen nicht anziehen können.
Das aktuelle Modevorbild der Bloggerin? Das amerikanische It-Girl Olivia Palermo – auch wenn sie keine Jüdin ist. Daniela holt sich oft solche Anleihen für ihre Outfits aus dem Internet, aus Blogs und Facebook. Nicht zuletzt aber schaut sie sich auch vieles von Frauen auf der Straße ab. „Ich beobachte andere Mädchen und überlege mir, was ich auf mich übertragen kann“, sagt sie. Für Chava bedeutet ihre Kleidung gleichermaßen Ausdruck ihrer Individualität: „Modern sein heißt für mich, dass man mutig und aufgeschlossen ist, sich selbst ein unvoreingenommenes Urteil zu bilden. Das gilt in gleicher Weise für die Kleidung“, sagt sie. Sie mag kleine Labels und unbekanntere Designer, hat eine Vorliebe für den Rock‘n‘Roll- Stil des Rockabilly. Ob die Stücke aus Israel oder aus den Händen eines jüdischen Designers oder von woanders kommen, darauf legt sie keinen Wert, solange sie den religiösen Kriterien entsprechen und nachhaltig hergestellt worden sind. Wenn es um österreichische Mode geht, greift Chava gern zu Lena Hoschek.
Letzte Rettung
Im zweiten Bezirk zeigt Daniela stolz auf die israelischen Zertifikate, die sie als professionelle Scheitelmacherin ausweisen. Zwei Mal ist sie für Kurse extra nach Israel gereist. Dort und in Amerika erzählt sie, sei die Scheitelmacherin Teil des Alltags vieler Jüdinnen. Eine Person, zu der Frauen eine besondere und langjährige Beziehung aufbauen. Eine Frau, die andere Frauen begleitet. Sie selbst bietet ihre Perücken und sämtliche Hilfestellungen rund um das Zweithaar seit September an. Die große Nachfrage hat sie überrascht. Und erste Kundinnen hat sie aus misslicher Lage befreit. So etwa die Dame, die ihr eine einst wunderschöne Langhaarperücke in die Hand drückte. „Retten Sie, was zu retten ist“, flehte sie Daniela an. Die Dame hatte bei dem teuren Scheitel nur die Spitzen schneiden wollen. Heraus kam aber ein fransiger Kurzhaarschnitt. „Ich habe die Perücke dann durch Föhnen wieder hingekriegt“, lacht Daniela.