Was ist bitte juedisch?

Von Martin Engelberg

Oft gebraucht, nicht selten missbraucht steht er da – der Begriff „Jüdische Identität“. Gelebt in der Solidarität mit Israel, im Gedenken an die Shoa, im Kampf gegen Antisemitismus. Aber was ist jüdische Identität überhaupt? Um welche Gefühle, Haltungen handelt es sich? Wovon reden wir?

Sigmund Freud, der für die erste Nachschau Naheliegendste in einer solche Frage, überrascht. Im gesamten Werk Freuds – und es ist fürwahr ein umfangreiches und alle Winkel der menschlichen Psyche beleuchtendes – findet sich keine einzige Erwähnung des Begriffs Identität. Was und wo soll Identität überhaupt sein, fragt sich ein Psychoanalytiker tatsächlich. Aber dennoch: keine einzige Erwähnung, in keiner seiner Schriften, Abhandlungen, Vorlesungen, Vorträge? Aber dann doch! Ein einziges Mal verw e ndet Freud tatsächlich diesen Begriff und selbstverständlich in Bezug auf – man erahnt es – seine eigene jüdische Identität: Anlässlich seines 70. Geburtstages hält Freud 1926 vor den Mitgliedern der Wiener Loge der B’nai B’rith eine bemerkenswerte Rede: Was mich ans Judentum band, war – ich bin schuldig, es zu bekennen – nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den „ethisch“ genannten Forderungen der menschlichen Kultur. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich macht, viele dunkle Gefühlsmächte, umso gewaltiger, je weniger sie sich in Worte fassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion“.

Freud sagt hier sehr viel zur jüdischen Identität, aber er bekennt sich auch dazu, in dieser Frage nicht mehr Antworten geben zu können. So schreibt er in seinem Vorwort zur 1930 erschienenen, hebräischen Ausgabe seines Buches „Totem und Tabu“, dass er „doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?“ so würde er antworten: „Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicher später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“.

Etwa 25 Jahre später wird der Begriff „Identität“ und dessen Entwicklung erst in die Psychoanalyse eingebracht – und zwar von dem im Jahre 1994 verstorbene Erik Homburger Erikson, dem letzten alten Grandseigneur der Psychoanalyse.

Unter Identität wird heute üblicherweise die Gesamtheit der Eigenschaften, die Individuen als zu ihrem Selbst gehörend betrachten, angesehen: dessen physische, intellektuelle, moralische, psychologische und soziale Charakteristika. Wenn wir also von jüdischer Identität sprechen, interessieren uns die jüdischen Komponenten dieses Selbst – welcher Art sie sind, und welchen Platz, welchen Teil das Jüdisch-Sein in diesem Selbst einnimmt.

Individuelle Identität wird auf frühen Identifikationen aufgebaut, die das Kind mit ihm nahestehenden Personen, ihren Wertvorstellungen und Verhaltensmustern vollzieht. Wir können heute aufgrund der wissenschaftlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte davon ausgehen, dass sich diese Identifikationen bereits in der Kindheit zu einer Kernidentität formen, die einen Menschen dann ein Leben lang bestimmt. Und diese Kernidentität umfasst selbstverständlich auch die jüdischen Komponenten der Identifikation.

So kann man sagen, dass ein Kind jüdisch ist, bevor es weiß, dass Judentum existiert.

Was also waren die bestimmenden, ganz charakteristischen Faktoren für die Entwicklung dieser jüdischen Identität?

Wohl zu alle rerst das Lernen, Wissen und Verstehen . Die zentrale Bedeutung und Wertschätzung von Klugheit und Gelehrtheit, des „Talmid Chachams“, die große Tradition des „Pilpuls“ beim Talmudstudium. Die Suche nach versteckten Bedeutungen, die endgültige Lösung eines anscheinend unlösbaren Problems, das Finden einer völlig neuen Synthese – und alles das unter Einbeziehung von Denkfähigkeit, Wissen, Vorstellungskraft, Gedächtnis, Logik, Witz und Subtilität.

Dies hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung einer kollektiven Identität. „Die Juden behielten die Richtung auf geistige Interessen bei, das politische Unglück der Nation lehrte sie, den einzigen Besitz, der ihnen geblieben war, ihr Schrifttum, seinem Werte nach einzuschätzen. Unmittelbar nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus erbat sich Rabbi Jochanan ben Sakkai die Erlaubnis, die erste Thoraschule in Jabne zu eröffnen. Fortan war es die heilige Schrift und die geistige Mühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt“, schreibt Freud in seinem berühmten Werk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ – und verknüpft dies sodann mit einem weiteren Charakteristikum jüdischer Identität: „Der Vorrang, der durch etwa 2000 Jahre im Leben des jüdischen Volkes geistigen Bestrebungen eingeräumt war, hat natürlich seine Wirkung getan; er half, die Rohheit und die Neigung zur Gewalttat einzudämmen, die sich einzustellen pflegen, wo die Entwicklung von Muskelkraft Volksideal ist“.

Eine ausführlichere und differenziertere Ausarbeitung der Charakteristika jüdischer Identität würde diesen Rahmen sprengen. Kursorisch angesprochen gehörten dazu: Das Ausarbeiten einer gemeinsamen Herkunft, die Entwicklung von gemeinsamen Mythen, egal ob sie erfunden oder historisch begründet sind.

Jüdischen Mythen, die zur Kernidentität eines jüdischen Kindes beitragen, wurden ihm von den Eltern mit dem täglichen jüdischen Leben, besonders aber über die jüdischen Feiertage weitergegeben. Das Kind identifizierte sich mit den Juden und ihren legendären Siegen und Niederlagen – und behielt die so transportierten Identifikationen und die Werte.

Ein besonders starkes Bindemittel war eine gemeinsame Sprache, beziehungsweise eine bestimmte, gemeinsame Sprechweise, welche die jüdische Gruppe von den anderen unterschied. Der Akzent, der Tonfall, die Sprechweise einer Sprache übermittelt eine Botschaft, die über den reinen Inhalt hinausgeht. Das spätere Wiederhören einer solchen Sprechweise oder auch Sprache selbst kann starke Gefühle der Zuneigung, Nähe und Identität hervorrufen.

Identitätsstiftend war auch der Name, welche die Kontinuität mit den Eltern, Großeltern und Vorfahren darstellt. Eindeutig jüdische Vornamen wurden in der Moderne schnell fallengelassen. Das Kind erhielt aber einen weiteren – jüdischen – Vornamen, der bei religiösen Anlässen verwendet wird und von einem verstorbenen Vorfahren stammt.

Oft stimmt der Anfangsbuchstabe des „weltlichen“ Vornamens mit dem ersten Buchstaben des jüdischen Namens überein. Einen charakteristisch jüdischen Familienname aufzugeben, ist ein schwerwiegender Schritt und hat sicher – in mehrfacher Hinsicht – Einfluss auf die Entwicklung der jüdischen Kernidentität eines Kindes.

Die Bedeutung einer einheitlichen Kleidung ist evident. In Momenten wo der Gruppenzusammenhalt besonders wichtig ist, etwa im Krieg, werden Uniformen verwendet. Uniformen helfen, Mitglieder einer Gruppe von Nicht-Mitgliedern zu unterscheiden. Abgesehen von der Kleidung der Orthodoxen kleiden sich Juden heute nicht mehr auf eine bestimmte jüdische Art und Weise. Geblieben sind jedoch – wenn auch in einem sehr geringen Ausmaß – die Kippa, der Talles in der Synagoge und die Tefillin.

Von großer Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Identität sind religiöse Rituale. Regelmäßig wiederkehrende Handlungen versprechen auf zweierlei Art Kontinuität und damit Sicherheit: Erstens schaffen sie ein Gefühl des Gleichseins. Zweitens helfen sie, die mit Trennung und Veränderung einhergehenden Ängste abzuwehren. So werden Rituale, egal ob sie später aufgegeben werden oder nicht, immer ihre starke emotionale Bedeutung beibehalten.

Juden und das Leben der jüdischen Identität gingen bekannterweise in ganz unterschiedliche Richtungen: Assimilation, Zionismus, Reform, politische Betätigung im Kommunismus, usw.

In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren war es die Identifizierung mit Israel, die das Leben der jüdischen Identität am stärksten bestimmte. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren hat das Gedenken an die Shoah, die Ritualisierung des Gedenkens, der Kampf gegen tatsächliche oder vermeintliche Antisemiten und Feinde eine zentrale Bedeutung für das Leben jüdischer Identität bekommen. Alle anderen Werte und charakteristischen Haltungen, die oben beschrieben wurden, sind dadurch fast vollkommen verdrängt worden. Eine „Besessenheit vom Überleben, eines inhaltslosen, spirituell leeren Überlebens um seiner selbst Willen“ hat sich eingestellt, formuliert Barnard Wasserstein, langjähriger Professor für Geschichte an der Brandeis University.

So hat sich auch hier in Wien in unserer jüdischen Gemeinde eine kuriose Situation entwickelt: Eine inzwischen unglaublich reichhaltige und umfangreiche Infrastruktur mit mehreren Schulen, Synagogen und Bethäusern und einem gut ausgebildeten sozialem Netzwerk mit zahllosen Vereinen und Institutionen steht einem jüdischen Leben gegenüber, das inhaltsleer, vollkommen uninspiriert, lethargisch und visionslos anmutet.

Es ist fraglich ob es für das europäische Judentum, für die jüdische Identität und das Leben dieser überhaupt eine Zukunft gibt. Wenn, dann bedarf es einer maximalen Anstrengung: es muß das geistig-jüdische Leben gefördert werden, es muß das Interesse an der hebräischen und jiddischen Kultur, an der jüdischen Geschichte und vor allem an einer Kulturpolitik der Diaspora geweckt werden – all dies unter der Voraussetzung eines Maximum an kulturellem Pluralismus.

 

Diese Gedanken möchte ich in der nächsten Ausgabe von NU weiter ausführen.

Die mobile Version verlassen