Wahrheit ohne Rücksicht

Germanos von Patras segnet am 25. März 1821 im Kloster Agia Lavra die griechische Fahne. Das Ereignis gilt als Beginn der Griechischen Revolution. Gemälde von Theodoros Vryzakis (1865) ©Creative Commons

Der griechische Freiheitskampf von 1821 startete mit einem Ausrottungsfeldzug gegen die muslimische und jüdische Zivilbevölkerung. Warum gedenkt ihrer niemand?

Von Richard Schuberth

Als einige europäische Medien Ende März dieses Jahres des Ausbruchs der Griechischen Revolution vor 200 Jahren gedachten, wiederholte sich ein verstörendes Muster. Die  Zeitungen schrieben über die osmanischen Massaker auf Chios im Frühling 1822, aber keine einzige von der gänzlichen Ausrottung der Muslime und Juden auf der Peloponnes und Teilen Mittelgriechenlands im Jahr zuvor. Innerhalb eines halben Jahres hatten die Aufständischen an die 30.000 Juden und Muslime ermordet, weitere Zehntausende versklavt oder vertrieben.

Die Massaker folgten stets demselben Muster. Die belagerten Städte wurden ausgehungert, in Kapitulationsverhandlungen versprach man den Eingekesselten freien Abzug und Transport auf neutralen Schiffen, hernach wurden sie niedergemetzelt. Man könnte die Schilderungen der bestialischen Vergewaltigungen, Folterungen und Tötungen von Frauen und Kindern als Übertreibungen der von den zeitgenössischen Griechen enttäuschten Philhellenen abtun, doch decken sich zu viele Quellen, griechische wie philhellenische. An Grausamkeit standen die griechische wie die osmanische Seite einander in nichts nach, und dennoch ist es keine pro-osmanische Bias, wenn man das historische Faktum anerkennt, dass die osmanischen Generäle bei solchen Belagerungen die Kapitulationsbedingungen fast immer einhielten. Sie wussten, dass die Aufständischen bei den Bauern oft verhasst waren, und hatten kein Interesse an der Dezimierung der steuerpflichtigen Zivilbevölkerung.

Der Historiker William St. Clair resümierte in einem Standardwerk zum europäischen Philhellenismus: „Die Türken Griechenlands haben nur wenige Spuren hinterlassen. Sie verschwanden plötzlich und gänzlich im Frühjahr 1821, unbeklagt und unbemerkt vom Rest der Welt … Nichts zeugte mehr davon, dass in Griechenland eine große türkische Bevölkerung gelebt hatte, die in kleinen Gemeinschaften übers ganze Land verstreut war, Bauern, Kaufleute und Beamte, deren Familien seit Hunderten von Jahren kein anderes Zuhause gekannt hatten … Sie wurden mit Vorsatz getötet, ohne Skrupel und Gewissen, und ohne Bedauern – weder damals noch später.“

Mit Türken meint St. Clair allerdings Muslime, denn ethnische Türken waren eine verschwindend kleine Minderheit. Und ihr Schicksal teilten die romaniotischen und sephardischen Juden; außer in Saloniki, wo eine selbstbewusste sephardische Gemeinde die demografische Mehrheit bildete.

Stockholm-Syndrom der Täter

Wer diese Exzesse eingestand, erklärte sie – heute wie damals – durch die jahrhundertelange osmanische Unterdrückung. Nun fiel diese auf der Peloponnes aber verhältnismäßig gering aus, zumal sich muslimische Beamte und Grundbesitzer die Macht in gutem Einvernehmen mit den christlichen neofeudalen Kotzabasides (Großgrundbesitzer, Verwaltungsbeamte und Steuerpächter, oft in einer Person) teilten. Einem beliebten Sprichwort zufolge litten die Griechen am meisten unter dem Kotzabasis, dem Priester und dem Türken – und zwar immer in dieser Reihenfolge.

Am meisten aber litten die Bauern unter der Schicht der waffentragenden Banditen, der Kleften und den räuberischen Bewohnern der Halbinsel Mani, welche die restliche Peloponnes regelmäßig drangsalierten. Diese gefürchteten und trotzdem in einer Art kollektiven Stockholm-Syndrom romantisierten Warlords stellten die irreguläre Befreiungsarmee, der sich die oft zwangsrekrutierten Bauern in der Hoffnung auf Plündergut unterordneten. Auf einen wichtigen Faktor wies der Revolutionsteilnehmer und Historiker George Finlay hin: dass die Exzesse milder ausgefallen wären, wenn die meist bürgerlichen Delegierten der in Odessa gegründeten Geheimorganisation Filiki Eteria nicht die strikte Order ausgegeben hätten, die „Ungläubigen“ restlos zu vernichten. Auch für die Hauptstadt Istanbul war ein konzertierter Massenmord an den Muslimen geplant gewesen, und in Odessa begannen von der Filiki aufgestachelte Griechen aus Mangel an Muslimen sofort mit Pogromen an den Juden der Stadt.

Warum aber die Juden?

Es bleibt die Frage offen, warum auch die Juden von Agrinion, Theben, Mistra, Kalamata, Tripolitsa und vieler anderer Städte dem Ausrottungsfeldzug zum Opfer fielen. Auf dem Balkan, zumal dem osmanischen, war Antisemitismus stets ein marginales Phänomen geblieben, selbst wenn er sich bei den Griechen am stärksten ausprägte, doch war dieser auf dem Niveau eines konfessionellen Rassismus geblieben. Ethnisierte Vorurteile gegenüber der kommerziellen Sphäre waren in der Levante, bei Christen wie bei Muslimen, auf Juden, Griechen, Armenier und auch christliche Araber gleichermaßen verteilt.

Juden galten jedoch als Kollaborateure der Osmanen. Sie waren entweder Händler oder ärmere Handwerker und – schutzlos. Die Legitimation für Ausplünderung und Ermordung bestand schlichtweg in der konfessionellen Differenz. Der Schulterschluss mit ihren feudalen Eliten und den Warlords bot den christlichen Bauern die Möglichkeit, den sozialen Druck an Schutzlosen zu entladen und die Einwohner der Städte auszurotten, wobei auch nicht selten Christen getötet wurden, auch unter dem Vorwand der Kollaboration mit den „Türken“.

Warum das Schweigen?

 Die Antwort auf die Frage nach dem Grund der Verdrängung dieses Genozids ist äußerst kompliziert. So viel dürfte allerdings klar sein: Er passt niemandem in den Kram. Sein Täter-Opfer-Gefälle harmoniert weder mit der griechischen Nationalerzählung noch mit der europäischen von „Hellas’ Erwachen“ und der Geburt eines westlichen Rechtsstaats.

Doch auch andere ideologische Frontstellungen behindern einen unparteiischen Blick auf die Vergangenheit. Dass hier muslimische und jüdische Zivilbevölkerung Seite an Seite durch Christen ermordet wurde, stellt sich ebenso quer zu Ansätzen, die nach einem in Zeit und Raum konstanten islamischen Antisemitismus fahnden, wie klassisch antiimperialistischen, die ihr heroisches Befreiungssubjekt nicht als beutegierige, unidealistische und unpatriotische Völkermörder sehen wollen.

Hinzu mag die Scheu kommen, nach Jahren antigriechischer Ressentiments seitens Deutschlands und anderer EU-Länder den zeitgenössischen Griechen auch noch diese historische Verantwortung aufzubürden. Die Ereignisse von 1821 gingen aber dem griechischen und türkischen Nationalismus, dem westlichen Imperialismus, dem modernen Rassenantisemitismus, dem Djihadismus und der rechten Angst vor der Muslimisierung Europas voraus. Dabei wären diese Eiertänze nicht notwendig, würde man lernen, historisch zu denken, das heißt, keine gängigen Ideologeme auf die Konflikte von damals zu projizieren. Die Wahrheit selbst indes hat auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen.


Richard Schuberth
Lord Byrons letzte Fahrt
Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges
Wallstein, 2021
540 S., EUR 30,80,–

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