Wächst der Antisemitismus wirklich?

Ist Österreich heute tatsächlich antisemitischer als in den 2000er Jahren, als Juden von vielen für die „Sanktionen“ gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung verantwortlich gemacht wurden? © IKG

Die Zahlen, die Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, am 13. Mai 2022 präsentierte, verstörten: Um 65 Prozent auf 965 Fälle haben antisemitische Übergriffe im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr zugenommen.

Von Eric Frey

Im Jahrzehnt davor war die Zahl langsam, aber kontinuierlich gestiegen, von nur 70 im Jahr 2010 auf 585 im Jahr 2020. Und nun gab es innerhalb kurzer Zeit diesen Sprung auf ein Niveau, das 18 Vorfällen jede Woche entspricht. Kein Wunder, dass der wachsende Antisemitismus als Übel unserer Zeit gilt, das Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien und andere Vertreter der Zivilgesellschaft bei jeder Gelegenheit anprangern. Kein Wunder, dass sich Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Österreich zunehmend unwohl fühlen und sich um ihre Sicherheit sorgen.

Aber hat der Antisemitismus tatsächlich in den vergangenen Jahren so rasant zugenommen, nämlich um mehr als ein Zehnfaches seit 2010? War es damals etwa so gut, und ist es heute wirklich so schlimm? Nicht nur ein genauerer Blick auf die Zahlen gibt Grund zur Skepsis.

In einem Land von neun Millionen, das angeblich vor antijüdischen Vorurteilen strotzt, sind knapp tausend gemeldete Vorfälle noch keine wirklich erschreckende Zahl. Entscheidend aber ist, dass 60 Prozent dieser Ereignisse als „verletzendes Verhalten“ beschrieben werden – und das sind vornehmlich Postings auf Facebook, Telegram und anderen sozialen Medien sowie Massen-Emails. Dass diese Zahl deutlich zugenommen hat, überrascht nicht: Schließlich werden das Internet und soziale Medien heute viel häufiger und von viel mehr Menschen genutzt als noch vor einigen Jahren. Dazu kommt ein stärkeres Bewusstsein, was antisemitisch ist oder so interpretiert werden könnte. Viele Aussagen, die früher kaum beachtet worden wären, werden heute gemeldet – auch weil die Möglichkeit zur Meldung öffentlich viel präsenter ist als einst.

Codes und Corona

Die von der IKG verwendete Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) schließt auch antiisraelische Aussagen mit ein – was auch manche Kämpfer für die Rechte der Palästinenser zu Antisemiten stempelt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen, die 2021 besonders groß waren, wurden auch Holocaust-Vergleiche von Impfgegnern als antisemitisch eingestuft, die man genauso nur als historisch verfehlt und geschmacklos kritisieren könnte. Manchmal geht es um antisemitische Codes, deren Bezug zum Judentum den zu Verschwörungstheorien neigenden Sprechern gar nicht bewusst ist. Auf den antijüdischen Kontext hinzuweisen, ist notwendig; dies als Beispiel für Antisemitismus zu werten, wenn etwa von dunklen Mächten die Rede ist, die im Hintergrund die Fäden ziehen, ist zu viel.

Dass Antisemitismus in Österreich und anderswo in Europa existiert, daran gibt es keinen Zweifel. Jeder Gewaltakt gegen Jüdinnen und Juden ist ein Skandal, jede einzelne antisemitische Aussage ist eine zu viel. Aber das Bild des ständig wachsenden Antisemitismus, das von jüdischer und nichtjüdischer Seite heute oft als selbstverständlich präsentiert wird, muss hinterfragt werden – vor allem in Österreich, wo die Zahl der tatsächlichen physischen Angriffe auf Juden in jedem Jahr so gering ist, dass sich gar kein statistischer Trend erkennen lässt. Jeder Anstieg oder Rückgang beruht auf Zufälligkeiten.

Ist Österreich heute tatsächlich antisemitischer als in den 1950er Jahren, als die NS-Propaganda noch das Denken vieler Menschen prägte? Als in den 1960er Jahren, als viele katholische Priester noch „die Juden“ als Gottesmörder brandmarkten? Als in den 1970er Jahren, zum Höhepunkt der Solidarität mit der PLO, die damals noch eine Terrororganisation war? Als in den 1980er Jahren, als die ÖVP offen mit Antisemitismus hantierte, um ihren Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim zu verteidigen? Als in den 2000er Jahren, als Juden von vielen für die „Sanktionen“ gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung verantwortlich gemacht wurden? Oder am Höhepunkt des IS-Terrors in den 2010er Jahren, als vor allem in Frankreich Jüdinnen, Juden und jüdische Einrichtungen zur Zielscheibe wurden?

Positive Einstellung

Alle Umfragen über die Einstellung der Menschen zum Judentum zeigen eines: Je jünger die Befragten, desto geringer die Vorurteile. Wenn man nicht davon ausgeht, dass Menschen im Alter antisemitischer werden, lässt sich daraus nur schließen, dass die alten Antisemiten langsam aussterben und die neue Generation meist zwischen positiven Einstellungen zum Judentum und Gleichgültigkeit schwankt. Selbst den Rassisten unter den Jüngeren sind Juden meist egal; ihr Zorn zielt auf Muslime und Schwarze. Und es gibt kaum Hinweise, dass in Österreich das ständige Bemühen von Regierung, Kirchen, Kultureinrichtungen oder Medien um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Stärkung des jüdischen Lebens heute auf breiten Unmut oder gar Widerstand stößt.

Echter Antisemitismus findet sich im harten Kern der rechtsextremen Szene. Der kann höchst gefährlich werden, spiegelt aber keinen allgemeinen Trend zum Judenhass wider. Anders ist es beim muslimischen Antisemitismus, der in erster Linie von der Feindschaft zu Israel gespeist wird. In muslimischen Gemeinschaften sind antijüdische Vorurteile leider weit verbreitet und bei einer radikalen Minderheit so vehement, dass sie zur Gewalt motivieren können.

Aber auch der muslimische Antisemitismus scheint im vergangenen Jahrzehnt recht konstant zu sein; er wird immer dann sichtbarer, wenn es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas kommt. Österreich hat noch dazu das Glück, dass die meisten Muslime türkischer Herkunft sind, für die Israel ein weniger klares Feindbild ist als für viele Araber. 

Kassandra-Rufer

Warum ist dennoch ständig von zunehmendem Antisemitismus die Rede, warum wird das auch in den Medien gebetsmühlenhaft wiederholt? Man sollte niemandem unterstellen, dass sie dieses Bild aus Eigeninteressen bewusst pflegen; die meisten, die dieses Wort in den Mund nehmen, glauben wirklich daran und wollen so einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten. Das ist gerade in Österreich und Deutschland weit verbreitet: Die vehemente Ablehnung des Antisemitismus ist die hiesige Form der „Wokeness“, mit der man seine Anständigkeit beweist und niemanden vor den Kopf stößt.

So gesehen ist es für die Spitzen der IKG genauso wie für jede Bundes- und Landesregierung und unzählige Vertreter zivilgesellschaftlicher Einrichtungen von Vorteil, am Schreckgespenst des wachsenden Antisemitismus festzuhalten und sich dem Kampf dagegen zu widmen. Die einzigen, denen es schadet, sind jene Jüdinnen und Juden, die in Österreich und Europa ihre Heimat sehen und sich weder als Verfolgte noch als Opfer fühlen wollen. Jeder Antisemitismus-Bericht, jede Sonntagsrede mit eindringlichen Warnungen enthält die unausgesprochene Botschaft: Glaubt nicht daran, dass alles so bleibt, seid besorgt. Die Geschichte kehrt wieder. Dass diese Kassandra-Rufer unrecht haben, lässt sich niemals beweisen. Aber eines sollte klar sein: Die tatsächliche Zahl und Art der gemeldeten antisemitischen Vorfälle bieten keinen Grund, das Schlimmste zu befürchten.

Grafik: ©IKG
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