Albert Einstein und Sigmund Freud sind nur die bekanntesten. Warum unter den erfolgreichen und innovativen Wissenschaftlern so viele Juden sind, fragt man sich schon seit mehr als hundert Jahren. Es ist an der Zeit, die Frage zu hinterfragen.
Von Oliver Hochadel
Zahlen suggerieren harte Fakten. Zum Beispiel: Unter den Nobelpreisträgern der ersten hundert Jahre (1901 bis 2000) waren bei der Chemie über 19 Prozent Juden, bei der Physik 36 Prozent und bei der Medizin sogar über 50 Prozent. Macht summa summarum mehr als ein Drittel der naturwissenschaftlichen Nobelpreise. Gemessen an ihrem geringen weltweiten Bevölkerungsanteil wären Juden mit einem Faktor von bis zu hundert überrepräsentiert.
Solche Aufstellungen finden sich in zahllosen Publikationen und auf vielen Websites, zu trauen ist keiner von ihnen. Es gibt keine gesicherte Statistik über Nobelpreisträger, die die Religionszugehörigkeit ausweist. Denn wie man sich unschwer vorstellen kann, käme man beim Nachzählen rasch in Schwierigkeiten. Wen zählt man als Juden, wen nicht? Orientiert man sich an Konfession oder Abstammung? Und was, wenn nur die Mutter oder gar nur der Vater jüdisch war?
Sollte man also von dem Thema nicht besser gleich die Finger lassen, um sich diese nicht zu verbrennen? Denn die Überrepräsentanz jüdischer Wissenschaftler wurde schon vor hundert Jahren thematisiert – von antisemitischer Seite, die das Klischee des „schlauen Juden“ bemühte.
Dennoch scheint an dem grundlegenden Faktum einer – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – enormen Überrepräsentanz erfolgreicher jüdischer Forscher erst mal nicht zu rütteln zu sein. Welche Erklärungen gibt es jenseits der Reproduktion von Stereotypen und einer biologistischen, also letztlich rassistischen Betrachtungsweise? Für die Geschichtswissenschaft hat sich diese Frage als harte Nuss erwiesen.
Synagoge als Denkschule?
Ein kulturgeschichtlicher Ansatz führt die spezifischen religiösen Traditionen ins Feld, die quasi als Vorstufe zu kritisch-rationalem Denken gedient hätten. Die jüdische Religion sei weniger hierarchisch als etwa die christlichen, es wird mit dem Rabbi diskutiert und nicht ihm nachgebetet. In der Tat war durch das Studium der heiligen Schriften die Alphabetisierungsrate bei Juden vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht stets höher als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Für den Grazer Soziologen Christian Fleck bleibt dieser Erklärungsversuch jedoch vage und wenig überzeugend. Von der Thora zur Relativitätstheorie ist es ein weiter Weg. Schließlich kamen fast alle erfolgreichen jüdischen Wissenschaftler aus säkularen Elternhäusern oder hatten sich eben gerade aus der Enge der jüdischen Orthodoxie befreit. Die Kabbala, die jüdische Zahlenmystik, als Erklärung für die Brillanz jüdischer Mathematiker heranzuziehen, hält der Wiener Historiker Mitchell Ash gar für Unsinn. Alle gängigen Erklärungsmuster, wonach die Juden „an sich“ eine Nähe zu Kultur, Schrift oder Wissenschaft hätten, seien in Frage zu stellen, so Ash.
Aufstieg durch Bildung
Zielführender ist es daher zu fragen, wann und wo die Überrepräsentanz jüdischer Wissenschaftler zu finden ist. Besonders ausgeprägt scheint diese im deutschsprachigen Raum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in den USA nach 1945. Welche historischen Bedingungen waren damals gegeben?
Da ist zum einen die Politik: Juden wurden in Deutschland und in Österreich-Ungarn erst ab den 1860er Jahren volle Staatsbürger. Waren die Juden in ihren Arbeitsmöglichkeiten bis dahin auf den Bereich des Handels beschränkt, ergaben sich durch die rechtliche Gleichstellung nun neue Aufstiegsmöglichkeiten. Freilich: Adel, Kirche und Militär und zum guten Teil auch Politik und hohe Verwaltungsämter blieben Juden weiterhin verschlossen. Blieben die wissenschaftliche Karriere und die sogenannten freien Berufe. Genauer spricht man daher von Menschen jüdischer Abstammung, denn gerade viele der erfolgreichen Akademiker waren längst konvertiert. Wenn diese weiterhin als Juden bezeichnet wurden, dann aufgrund ihres „Blutes“, nicht ihrer Konfession. Charlotte Bühler, Karl Landsteiner, Lise Meitner, Elise Richter und Julius Tandler, um nur einige berühmte Wiener Wissenschaftler zu nennen, konvertierten im Laufe ihrer Karriere zum Christentum.
Innerhalb von ein bis zwei Generationen durchliefen Menschen jüdischer Abstammung einen regelrechten Akademisierungsschub: Aus Kaufleuten wurden Physiker und Advokaten. Um 1900 und noch bis 1938 stellten Juden in Wien bei einem Bevölkerungsanteil von etwa zwölf Prozent fünfzig bis sechzig Prozent der Journalisten, Rechtsanwälte und Ärzte. Gab es 1862 noch keinen angestellten Juden an den österreichischen Universitäten, wurde 1938 an der Universität Wien die Hälfte des Lehrkörpers in der Chemie und etwa ein Drittel in der Physik und Mathematik entlassen – die meisten aus „rassischen Gründen“.
Gläserne Decke
Diese hohen Anteile dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur vergleichsweise wenige Juden ordentliche Professuren erlangten, und wenn, mussten sie sich meist taufen lassen. Oft war mit der Privatdozentur die gläserne Decke erreicht. Diesen institutionalisierten Antisemitismus gab es in Österreich wie in Deutschland gleichermaßen. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov entwickelte daraus das „Peripherieargument“: Gerade weil sie an der Universität ausgegrenzt wurden, seien die jüdischen Forscher auf marginale und oft völlig neue Felder – etwa in der Atomphysik oder in der Neurophysiologie – ausgewichen. Volkovs Schlussfolgerung: Nicht trotz, sondern wegen der Diskriminierung seien die Wissenschaftler jüdischer Abstammung so innovativ gewesen. Wobei es freilich keine „jüdischen“ Disziplinen gab, das ist eine Vorstellung aus dem antisemitischen Giftschrank. Auch in der theoretischen Physik gab es eine große Zahl von Nichtjuden, man denke nur an Mach, Boltzmann und Schrödinger.
Diese sozialhistorischen Erklärungsansätze möchte der britische Historiker Steven Beller um einen kulturellen ergänzt wissen. In seinem Buch Wien und die Juden 1867–1938 geht er der Frage nach, wie die außergewöhnlichen Leistungen von Juden in der Wissenschaft, aber auch in der Literatur oder der Musik zu erklären seien. Beller führt vor allem den Willen zur weitgehenden Assimilierung im 19. Jahrhundert an. Bei ihrem Bestreben, das umfassende humboldtsche Bildungsideal zu erfüllen, erwiesen sich die Juden oft als die „besseren Deutschen“ – die „poster children of German Bildung“, so Beller.
Somit gibt es einige Parallelen zur Situation in den USA, die mit erklären, warum sich hier vor allem nach 1945 so viele erfolgreiche jüdische Wissenschaftler finden. Auch in den USA wurden Juden bis in die 1930er Jahre im akademischen Bereich stark diskriminiert. Gerade an den Eliteuniversitäten wie Harvard hieß es, ein jüdischer Student pro Jahrgang genüge. Die anderen Studierwilligen mussten auf andere Colleges ausweichen.
Dies hinderte die US-amerikanischen Juden nicht daran, Bildung als den Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg zu sehen. Assimilierung und Übererfüllung der gesellschaftlichen Ideale waren auch hier angesagt. Nachdem die unsichtbaren Barrieren nach 1945 gefallen waren, konnte sich dieser Wille zur Bildung dann endlich ausleben.
Brain-Gain
Hinzu kam eine beträchtliche Anzahl von den Nazis aus Europa vertriebener jüdischer Wissenschaftler, darunter auch etliche spätere Nobelpreisträger. Bei entsprechenden Meldungen aus Stockholm findet sich hierzulande immer eine Mischung aus heimlichem Stolz – „aus Österreich gebürtig“ – und verstecktem Bedauern: Die vertriebenen Laureaten hätten die mehr als magere Nobelpreisbilanz Österreichs nach 1945 doch entscheidend aufbessern können.
Aber Preisträger wie Walter Kohn (Chemie, 1998) und Eric Kandel (Medizin, 2000), die als Kinder vor den Nazis flüchteten, und andere vertriebene Forscher machten stets deutlich, dass sie selbst bei einer Rückkehr nach Österreich sicherlich nicht die Möglichkeiten gehabt hätten, die sich ihnen in den USA boten. Die Vorstellung, dass die Emigranten dieselben wissenschaftlichen Leistungen erbracht hätten, ja selbst, dass sie sich mit denselben Themen beschäftigt hätten, wären sie nicht vertrieben worden, ist jedenfalls reichlich naiv. Wer will, mag hier die Dialektik der Geschichte am Werk sehen, bei der das Böse auch immer etwas Gutes hervorbringt.