Von der Hochzeit ins Ghetto

Die Klezmer-Musik, entstanden im osteuropäischen Schtetl, wurde später zum Lied des Widerstandes.
Von Elfriede Genée

Klezmer-Musik, man hört sie neuerdings immer öfter im Radio, in Konzertsälen und an anderen Orten. Diese traurig-lustigen, temperamentvollen Tanzweisen und geschichtenerzählenden Lieder stammen aus dem Schtetl und sind eine Mischung aus Psalmen und Volksliedern des ostjüdischen Volkes. Heute werden sie wieder entdeckt und erfreuen sich neuer Beliebtheit.

Tatsächlich hat Klezmer-Musik eine lange Geschichte. Sie ist eng verbunden mit der jiddischen Sprache des Hochmittelalters, die sich im Zeitraum von 1000 bis 1250 in Mitteleuropa entwickelte. Klez-Mer kommt von Klej (= Werkzeug) und Semer (= Lied) und bedeutet eigentlich Musikinstrument. Seit dem 16. Jahrhundert wird die Bezeichnung für die vortragenden Musiker verwendet, die auf den Festen des jüdischen Jahreszyklus aufspielten. Die Musik der Klezmer ist also eingebettet in den religiösen Lebenslauf des osteuropäischen Judentums. Bei Hochzeiten spielte sie eine wesentliche Rolle.

In der festgelegten Zeremonie des Klagens zur Abwehr böser Geister und bei jener des Jubels entstanden der lamentierende Untergrund und die energiegeladene Tanzfreude als Kriterium für das Spiel der Musikanten. Die den Klezmer bestimmende emotionale Qualität des „Nicht-Notenlesen-Könnens“ wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Die besondere Interpretation bestand in der typischen Phrasierung der Melodien, in den kunstvollen musikalischen Verzierungsformen.
Die wichtigsten Instrumente waren Geige, Klarinette und Tsimbl, eine Art Hackbrett mit Schlegeln. Vor allem die Geige spielte immer schon eine große Rolle, schließlich setzte sich die Aura des besonderen jüdischen Geigers fort bis zu Paganini und Johann Strauß. Dieses Instrument spielt auch eine wesentliche Rolle in Scholem Alejchems sozialkritischer Erzählung von Tewje, dem Milchmann, die zum Vorbild des Allerwelts-Musicals „Fiddler on the Roof“ („Anatevka“)wurde.

Erfolge und Niedergang
Die Klezmer waren als jüdische Hochzeitskapellen ursprünglich eng mit dem Gesang in der Synagoge verbunden. Sie waren, beeinflusst von slawischen Volksweisen, bis ins 18. Jahrhundert ungemein beliebt. In Polen hatte jede Stadt mit jüdischer Bevölkerung ihre eigenen Klezmer-Ensembles, die auch in Adels- und Bürgerhäusern aufspielten. Allerdings lösten sie sich in Folge der Aufklärung nach und nach auf. Die Shoah in Polen und die Zerschlagung der jüdischen Gemeinden durch die Stalinisten in Russland und der Ukraine führten zum endgültigen Ende des Klezmer-Milieus.

Klezmer-Revival in den USA
Eine erste Wiederbelebung der Klezmer-Musik fand ab 1881 in der Neuen Welt statt. Wegen der Pogrome emigrierten Juden aus Osteuropa nach Amerika und trösteten sich bei ihrer schweren Arbeit in der ungewohnten Umgebung mit ihren traditionellen Melodien. Es entstanden aber auch neue Lieder, welche die politischen und sozialen Missstände beschrieben, mit denen die Zuwanderer zu kämpfen hatten.

Die schwere Lage der Arbeiter in den New Yorker „Sweatshops“ beschrieb Morris Rosenfeld, der 1886 nach Amerika kam. „Majn Jingele“ ist ein trauriges Lied vom Vater, der seinen Sohn nur nachts sehen kann, weil ihn die Arbeit früh hinaustreibt und erst spät heimkehren lässt.
Der Arbeiterdichter David Edelschtat (1866–1892) kam nach einem Pogrom in Kiew 1882 in die Neue Welt und schrieb Lieder, die vom harten Arbeitskampf der Industriearbeiter erzählen und zur Freiheit aufrufen. Die alten Klezmer-Melodien blieben gleich, neu waren die Texte.

Die Klezmer-Musik in den USA veränderte sich auch dadurch, dass die ritualbezogenen Klänge ihren Sinn verloren. Die jiddische Welt verschmolz zunehmend mit der amerikanischen. Aus Klezmorim wurden Tanz- und Unterhaltungsmusiker einer blühenden neuen Pop-Kultur. Klarinette oder Saxophon, Trompete, Klavier und Schlagzeug waren jetzt die typischen Instrumente. Die alten Hochzeitsmusikanten schlossen sich zu kleinen Bands zusammen, die immer noch in typisch jiddischen Vereinen die Lieblingsmelodien von früher spielten. Die streng ritualisierten jüdischen Feste wurden in den USA jedoch säkularisiert und mit ihnen auch die Musik.
Es entstanden Plattenaufnahmen und Theateraufführungen mit neuen Kompositionen. Der erste Verleger machte schon 1898 sein gutes Geschäft mit dem populären „Rozhinkes mit Mandlen“. Auch kulturelle Interaktionen fanden statt. Die jüdischen Musiker spielten zwar jährlich in über tausend Immigrantengemeinden, man holte sie aber auch zu christlichen Veranstaltungen, zu Banketten, Bällen und Begräbnissen und zu Zigeunerhochzeiten, weil sie so gut spielten. Das löste nach und nach die Verwurzelung von Glauben und religiös-kulturellen Mustern auf. Die alten osteuropäischen Klezmer-Melodien wurden Symbole einer nostalgischen Erinnerung. Die neue Generation der 1930er Jahre widmete sich hingegen zunehmend dem Jazz.

Ghetto-Lieder
Im Europa der Shoah-Zeit wurde die alte Klezmer-Tradition zum Trost für die Verfolgten. Es entstanden auch zahlreiche neue Ghetto-Lieder schmerzlicher Meditation. Wie trostreich mag das traurige „Schpil’-she mir a Lidele“, dieses „Ich-lebe-und-kann-noch-singen“, gewesen sein (Text von Kotiliar, Melodie anonym).
Auch im Widerstand spielte der Klezmer eine Rolle. Das berührendste Lied in seiner Wehrhaftigkeit und Aussichtslosigkeit ist das Ghetto-Lied „Es brent, Brider“ des Schreiners, Volkssängers und Liedermachers Mordechaj Gebirtig (1877–1942). In Krakau geboren, war er Mitglied der jüdisch-sozialdemokratischen Partei in Galizien. Er schrieb einen anklagenden Arbeitslosenmarsch und träumte von einem neuen, freien Land. Er gehörte auch zu einer Schauspielgruppe und verfasste Lieder, die sich bald bei den Juden in Osteuropa verbreiteten. Er nahm aktiv an der Widerstandsbewegung im Krakauer Ghetto teil und feuerte die Kämpfer mit seinen Liedern an. 1942 wurde er von den deutschen Besatzern erschossen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wünschten sich Überlebende der Shoah, die nach Amerika emigriert waren, dass ihr altes Liedgut wieder gespielt werde. So entstand ein Geschäft mit der Sehnsucht der Älteren. Klezmer-Musik entfernte sich mehr und mehr von seinen Quellen. Außerdem wirkte sich auch die Staatsgründung von Israel aus. Der Weg der jahrhunderte alten Klezmer-Musik wurde abgeschnitten. Die zionistische Jugend wollte die klagenden Klänge nicht mehr hören, sie bevorzugte die erfrischende, israelische Tanzmusik, wie die Hora-Melodie des „Hava Nagila“. Im neu entstandenen Israel wurde weder die alte jiddische Sprache noch die alte Musik sehr gepflegt.

Klezmer heute
Seit den 1970er Jahren wurden die Ohrwürmer der ostjiddischen Musik in Amerika und Europa wieder entdeckt, ohne dass dabei jedoch religiöse Hintergedanken eine Rolle spielten. Alte Schellacks wurden aufgestöbert und ei-nige klassisch ausgebildete Musiker, vorwiegend aus Osteuropa, nahmen sich des alten jiddischen Kulturgutes an.

Heute gibt es drei Gruppen von Klezmorim mit zahlreichen Ausübenden: Traditionalisten, die sich an den 1920er Jahren orientieren. Sie wollen an die Quellen herankommen und nehmen historische Aufnahmen zum Vorbild. Progressive Traditionalisten streben nach einer Weiterentwicklung durch fremde Stilelemente, und die Erneuerer schließlich wollen Klezmer-Musik mit Jazz verbinden. Häufig bestehen die Gruppen auch aus Nichtjuden.
Ob ein Revival der untergegangenen Musik des Ostjudentums mit einer großen Spannbreite von Stilen gelingt, bleibt fraglich. Tatsächlich aber interessieren sich neue Generationen, die Enkel von Opfern und Tätern der Shoah wieder für das alte jüdische Erbe. Natürlich spielt dabei auch eine Art exotischer Verklärung des Ostjudentums eine Rolle. Jedenfalls werden die Lieder, die unter Tränen lächeln lassen, wird diese lustvoll-schmerzliche, emotional tief gehende Musik wieder gern gehört. Auch die Nigunim, die alten Tanzmelodien der Chassiden, einer jüdischen Sekte, die voll Lebensfreude, mit Singen und Tanzen ihre Gottesdienste beging, gehören dazu.
Die „innere Stimme“ in Musik ausdrücken – das ist es, was Klezmer den Menschen schenkt. Giora Feidman, der große Lehrer der Klezmer, definierte es so: „Klezmer machen Musik, indem sie ihre Seele über ein Instrument atmen.“

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