Vom Triumph ins Schlamassel

Das letzte bisschen Zeit, das ihm per Gesetz zur Regierungsbildung zustand, hatte der designierte Premier Netanjahu ausgereizt, als am späten Abend des 14. Mai 2015 endlich zwanzig Minister vereidigt wurden. Mit Ach und Krach bestätigte die Knesset die 34. Regierung des Staates Israel. Dabei hatte Benjamin Netanjahu am 17. März doch einen für viele überraschenden, aber zweifellos überragenden Wahlsieg errungen. Über den Start der vierten Regierung Netanjahu ist nichts Positives zu hören, ein Ende des Dramas noch lange nicht in Sicht.
VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM

Den Kommentatoren des politischen Israel fehlen die Worte. Man fragt sich, wie Netanjahu in weniger als zwei Monaten „vom König zum Fußabtreter“ werden konnte? „Was ist mit seinen taktischen Fähigkeiten passiert?“ Als Wahlkämpfer hatte er die Wählerschaft herumreißen und seiner Likudpartei über Nacht 30 Sitze in der Knesset sichern können. 35 Tage später bekommt er kaum eine mehrheitsfähige Regierung zusammen und kann seine eigenen Parteifreunde nicht mehr ausstehen – was auf Gegenseitigkeit beruht.

Die neue Regierung wird als „geköpftes Hühnchen“ bezeichnet, „dessen kopfloser Körper von Nachzuckungen geschüttelt“ werde; mit ihren „Zugängen, Abgängen, Spaltungen und Streitereien“ würde sie „jedem satirischen Sketch Ehre machen“, heißt es. Für sie gelte, was Alt-Premier Barak über die Abkommen von Oslo sagte: „Voller Löcher, wie ein Schweizer Käse!“ Eine Zeitung beobachtet, dass innerhalb der Regierung einer den anderen bekämpft und kommt zu dem Schluss: „Das ist kein Kabinett. Das ist eine Schießbude!“

In Netanjahus neuem Kabinett sitzt ein Wirtschaftsminister, der wegen Bestechung und Missbrauch von öffentlichen Mitteln eine Gefängnisstrafe verbüßt hat. Die Justizministerin will die Macht des Obersten Gerichts einschränken. Der Wohnbauminister konnte nicht Generalstabschef werden, weil er gegen das Baurecht verstoßen hatte. Die De-facto-Außenministerin darf als orthodoxe Jüdin Männern nicht die Hand geben, was Begegnungen mit ausländischen Diplomaten interessant zu machen verspricht.

Dieses gefundene Fressen für alle Netanjahu-Hasser wird auch dadurch nicht verdorben, dass Zipi Hotovely, Vizeaußenministerin im Außenministerium ohne eigenen Minister, erklärt, die Halacha (das jüdische Gesetz) gestatte ihr, eine ausgestreckte Hand zu ergreifen, weil es schlimmer sei, einen fremden Mann zu brüskieren. Karriereoffizier Joav Galant, zuständig für das heiße Thema Wohnbau, bedauert nun offenbar, dass sein Wohnhaus auf öffentlichem Grund steht, die Zufahrtsstraße dorthin nicht genehmigt und sein Olivenhain zu groß für seinen privaten Grundbesitz ist. Justizministerin Ajellet Schaked fehlen angeblich die politischen Muskeln, um ihre Träume gegen Israels unabhängige Gerichtsbarkeit auszuleben, und die orientalisch-jüdische Wählerschaft von Wirtschaftsminister Arije Deri begreift diesen, so scheint’s, nicht als Gauner, sondern als sephardisch- religiösen Robin Hood.

„Das ist ja der Trick“

Aber wie ist Netanjahu so schnell vom Triumph der Wahlnacht in eine Regierungsbildung geraten, die man nur als Schlamassel bezeichnen kann? – Zuerst hat er binnen kürzester Zeit seine engsten Vertrauten samt und sonders vor den Kopf gestoßen. Loyalität wird von Benjamin Netanjahu bestraft. Davon können begabte Politiker ein Lied singen.

Deshalb verbrachte Gideon Sa’ar die heißeste Zeit der Regierungsbildung mit seiner Familie im Urlaub in Spanien. Deshalb hat Mosche Kachlon seine eigene Partei gegründet. Deshalb hat sich Avigdor Lieberman in die Opposition geflüchtet. „Wer seine engsten Freunde jahrelang demütigt und bevormundet“, erklärte der langjährige Weggefährte und Außenminister Netanjahus, „darf sich nicht wundern, wenn sie ihm das zurückzahlen, wenn die Zeit gekommen ist.“

Nur Gilad Erdan schien die Zähne zusammenzubeißen. Er war einer der besten und tüchtigsten Ministern der beiden vorhergehenden Regierungen – „vielleicht zu tüchtig“, flachst Jossi Verter in HaAretz. Zu Beginn der letzten Maiwoche wurde Erdan dann doch noch Minister für innere Sicherheit, strategische Angelegenheiten und öffentliche Information. Dafür musste allerdings Benni Begin, der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Menachem Begin, den Netanjahu extra aus dem politischen Ruhestand geholt hatte, den Hut nehmen. Im Kabinett wären sonst zu viele Minister gewesen.

In einem fiktiven Gespräch zwischen Benjamin Netanjahu und seinem Sohn Jair lässt Uri Dromi, ehemals Chef des Government Press Office, den Regierungschef seine Methode der Ämtervergabe erklären: „Stell dir zuerst die Frage, welche Aufgabe am besten zu welcher Person passt. Dann lädst du diese Person ein, um ihr mitzuteilen, dass sie eine ganz andere Aufgabe bekommt, die in keiner Weise ihren Qualitäten entspricht.“ – „Ist das nicht verrückt?“, wagt Netanjahu- Sohn Jair einzuwenden: „Damit garantierst du doch ihr Versagen!?“ – „Das ist ja der Trick“, erklärt ihm sein Vater: „In kürzester Zeit werden all diese pompös daherkommenden Größenwahnsinnigen von der Presse zu Versagern erklärt, und ohne große Anstrengung stehe ich allein da und überrage sie alle.“

Ob die Analyse Dromis, der heute den Jerusalem Press Club leitet, Motive und Gesinnung Netanjahus korrekt darstellt, sei dahingestellt. Jedenfalls trifft er, was sich viele im Volk fragen: Wie kommt es, dass Netanjahu so viele Jobs an die falschen Leute vergeben hat?

Den Koalitionspartnern Netanjahus – Mosche Kachlon (Kulanu), Arije Deri (Schass) und Naftali Bennett (HaBait HaJehudi) – ist es gelungen, weit mehr vom Wahlsieger Netanjahu zu bekommen, als sie selbst jemals erwartet hätten. Joel Marcus bemerkt ironisch in der Jerusalem Post: „Die kleinen Koalitionspartner bekamen mehr Kabinettsposten, als sie Mitglieder im Parlament haben.“ Im Likud stellte sich den Parteifreunden im Laufe der Verhandlungen zunehmend die Frage: Was bleibt für uns? Letztendlich sind mehr als ein Drittel der aus 61 Knessetmitgliedern bestehenden Regierungskoalition als Minister oder stellvertretende Minister im Kabinett vertreten.

Wirtschaftsstrategie: Ein Geheimnis

Die Regierung Israels ist neu. Die Herausforderungen aber, vor denen sie steht, sind altbekannt. Vor dem Hintergrund der Gewitterwolken des radikalen Islam, die sich rund um das Land seit Jahren zusammenbrauen, sind es vor allem soziale und wirtschaftliche Nöte, die Israels Bürger beschäftigen: angefangen von den Wohnungspreisen und Lebenshaltungskosten über die Frage der Arbeitslosigkeit bis hin zur sozialen Absicherung. Die neue Knesset muss möglichst schnell einen Haushalt verabschieden – für das laufende Jahr 2015, in dem ansonsten kaum Handlungsfreiheit für die politischen Akteure besteht. Auch Rassismus- und Korruptionsvorwürfe beschäftigen die Menschen, ebenso die organisierte Kriminalität. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer effektiven und klar definierten Asylpolitik. Immerhin ist Israel das einzige westliche Land mit einer Landbrücke zu Afrika und beherbergt bereits Zehntausende illegaler Migranten.

Eine klare Aussagen hat Netanjahu zu Jerusalem: Die Stadt „war immer nur und wird ausschließlich die Hauptstadt des jüdischen Volkes sein und bleiben.“ Und zum Iran: Das Mullah-Regime in Teheran darf niemals in den Besitz einer Atombombe kommen. Darüber ist man sich in Israel aber eigentlich weitgehend einig, weshalb diese Fragen kaum diskutiert werden.

Als klare Botschaft der vierten Regierung Netanjahu darf – allen anderslautenden Beteuerungen des Regierungschefs zum Trotz – auch gewertet werden, dass seine stellvertretende Außenministerin genauso wie der für die Beziehungen zu den USA und den Palästinensern verantwortliche Silvan Schalom erklärte Gegner einer Zweistaatenlösung sind. Beide befürworten explizit den Ausbau von israelischen Siedlungen in Gebieten, die vor dem Sechstagekrieg von 1967 zu Jordanien gehörten. Zipi Hotovely soll sich sogar für eine israelische Annexion des Westjordanlandes ausgesprochen haben.

„Was aber will Netanjahu für die israelische Wirtschaft?“, fragt Merav Arlosoroff in HaAretz, um gleich selbst die Antwort zu geben: „Das ist ein Geheimnis!“ Tatsächlich weiß niemand im Volk, welche Strategie der Wirtschaftsexperte Netanjahu nach seinen unbestrittenen Erfolgen der letzten Jahrzehnte heute verfolgt. Niemand weiß, wie ultraorthodoxe und arabische Bevölkerungsschichten in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Anlass zur Sorge bereitet Arlosoroff die Feststellung, dass Israel heute für Investoren zu den bürokratischsten und ineffizientesten Ländern der Welt gehört. Sie bemängelt die träge öffentliche Verwaltung, archaische Arbeitsverhältnisse und fehlende Lösungsansätze gegen das Monopol der Elektrizitätsgesellschaft oder für die Förderung von Erdgas im Mittelmeer.

Kann man Netanjahu noch glauben?

Die vierte Regierung Netanjahu muss ihre Sprachlosigkeit nicht nur gegenüber dem eigenen Volk überwinden, sondern auch der Weltöffentlichkeit erklären, was Sache ist. Dan Meridor, Ex-Minister und Weggefährte Netanjahus im Likud, mahnt an: „Es ist nicht in erster Linie unser Fehler, dass mit den Palästinensern bislang keine Übereinkunft zustande gekommen ist. Aber es ist unser Versagen, wenn die Weltöffentlichkeit denkt, dass Israels Politik dafür verantwortlich ist.“

Ganz unterschiedliche Beobachter sehen eine große Diskrepanz zwischen der Sichtweise, mit der Netanjahu im westlichen Ausland wahrgenommen wird, und der Perspektive der Bevölkerung in Israel. Das Ausland sieht Israels Regierungschef weit kompromissloser und politisch rechts stehend als seine israelischen Mitbürger.

Tatsache ist, dass Netanjahu mehr Fläche des biblischen Landes Israel an Nichtjuden abgegeben hat als jeder andere Regierungschef Israels. Keiner hat den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten de facto so sehr gedrosselt wie er – während unter allen anderen, vor allem aber den sozialdemokratisch geführten Regierungen, der Siedlungsbau blühte. Kaum ein führender israelischer Politiker hat so viele palästinensische Terroristen freigelassen, und keiner ist der internationalen Gemeinschaft und ihren Vorstellungen von einer Zweistaatenlösung unter Hintanstellung eigener Positionen so weit entgegengekommen wie Benjamin Netanjahu. Aus israelischer Sicht fragt man sich, wie man einem solchen Regierungschef überhaupt noch Glauben schenken kann.

Gil Hofman, politischer Kommentator der Jerusalem Post, mag recht haben, wenn er spekuliert, dass es Netanjahu viel leichter gefallen wäre, eine stabile Regierung zu bilden, wenn die Israelis der ausländischen Presse und ihrer Darstellung Netanjahus als Hardliner und Falken mehr Glauben schenken würden.

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