Vertrieben, verboten, vergessen – aber nur beinahe

Der Orpheus Trust lässt das Wirken jüdischer Komponisten und Musiker wieder auferstehen.
Von Petra Stuiber

Ein Kind steht im Garten. Die Sonne scheint. Ein Schmetterling fliegt vorbei. Es ist ein Ort des Friedens, der Idylle. Das Kind ist begabt. Es fasst seine Eindrücke in Worte, die sich reimen – aus dem Schmetterling, der in der Sonne gaukelt, wird ein Gedicht. Einfache Worte voll zarter Poesie und von tiefer, jahrtausendealter Traurigkeit – dem Wissen um den nahenden Tod. Denn das Kind lebt nicht mehr. Es „lebte“ in Theresienstadt, weil es jüdisch war. Und es wurde ermordet in Auschwitz, weil es jüdisch war. Die Worte des Kindes, diese zarte, todtraurige Klage eines eingesperrten kleinen Poeten, schienen der Nachwelt für immer verloren. Bis sie Gerhard Bronner entdeckte, vertonte und mit Hilfe des „Orpheus Trust“ wieder auf die Bühne brachte – zuletzt im RadioKulturhaus, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Mit leichtem Gepäck“. Nicht ein Zuhörer blieb unberührt, als Anita Ammersfeld, begleitet von Bronner, dieses musikalische Zeitzeugnis vortrug. Die Veranstaltungsreihe „Mit leichtem Gepäck“ ist eine Initiative von Primavera Gruber und ihrem „Orpheus Trust“. Junge Künstler von heute tragen vergessene Musik von gestern vor – und retten damit verloren geglaubtes, unschätzbares Kulturgut von Künstlern, die von den Nazis ermordet wurden, die „mit leichtem Gepäck“ in unbekannte Länder fliehen und fast alles zurück lassen mussten – sogar die Früchte ihres Schaffens. Die jungen Künstler von heute kommen aus aller Welt – etwa das Quartetto Armonico, „eine japanische Gruppe mit einem italienischen Namen, die die Fuge eines böhmischen Juden spielt“, wie Gerhard Bronner mit der ihm eigenen, feinen Ironie im RadioKulturhaus darlegte. Die Künstler von gestern sind teils bekannt, groß, wie etwa Béla Bartók oder Emmerich Kálmán. Es geht aber auch um weithin unbekannte wie Zikmund Schul oder Curt Bry – Künstler, die nicht groß werden konnten, weil der Rassenwahn der Nazis es verbot. Nach 1945 wurden sie erst recht vergessen – in ihren Gräbern und in ihren Exil-Ländern. Ihre Werke wurden erst recht nicht gespielt, schließlich wollte die junge Republik Österreich ganz von vorne anfangen. Da konnte man alles brauchen – nur keine Zeitzeugen, die an das eigene, schlechte Gewissen erinnerten.

1996 gründete Primavera Gruber den „Orpheus Trust – Verein zur Erforschung und Veröffentlichung vertriebener und vergessener Kunst“. Die wesentlichsten Zielrichtungen sind:

• auf dem Gebiet der Musik aktiv zu sein – jenem Sektor der Exilgeschichte, bei dem in Österreich bisher die größten Defizite bestehen;

• einen Überblick über das vorhandene Material zu erarbeiten, Datensätze zu sichern, zu vervollständigen und Gefährdetes zu retten;

• die gesammelten und erschlossenen Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich und nutzbar zu machen;

• die von den Nazis vertriebenen, verbotenen, ermordeten MusikerInnen wieder in das Bewusstsein der heutigen Musikschaffenden – und damit des Publikums – zu bringen;

• ein Netzwerk – auch für einschlägige ausländische Institutionen – zu bieten.

Angefangen hatte alles mit einer sehr persönlichen Zäsur. Die studierte Juristin Primavera Gruber, Mutter von drei Kindern, begann nach ihrer Scheidung ein neues Leben. Nach der Gründung und dem Management der Aufbauphase des Klangforum Wien gründete sie die PR-Consultancy für Künstler „Kunst & Ko“. In letzterer Funktion geriet Gruber eines Tages an das Amber Trio Jerusalem. Drei junge Leute, Klaviervirtuosen, die eine Nische im Kulturbetrieb suchten – und mit Hilfe von Primavera Gruber auch fanden. Sie ermutigte das Trio, die Musik vertriebener jüdischer Künstler zu spielen – und sie versprach sogar ihnen, bei der Suche der geeigneten Komponisten zu helfen. Da bemerkte sie, dass das gar nicht so einfach war – die Informationen wollten und wollten nicht fließen. Scheinbar war nichts da, und doch war sich Gruber von Beginn an sicher, „dass da eine ganze Menge ans Tageslicht kommt, wenn man nur lange genug danach gräbt.“

Sie grub also, und am 1. Oktober 1996 war es so weit: „Vertrieben – Vergessen“ lautete der Titel des ersten Konzertes des neu gegründeten „Orpheus Trust“ – und man bekam sogar eine kleine Unterstützung des damaligen Kulturministers Rudolf Scholten. Derart ermutigt, beschloss Gruber weiterzumachen. Sie stellte freilich bald fest, dass das Unternehmen „Orpheus Trust“ viel Arbeit und wenig Geld bedeutete – vor allem für seine Initiatorin. Dennoch machte sie weiter, sie gab sogar ihren Job als Künstleragentin weitgehend auf: „Ich musste mich auch um meine Kinder kümmern – alles auf einmal wäre nicht möglich gewesen.“

Diese Entscheidung bedeutete monatelang 16 Stunden Arbeit pro Tag in einem winzigen Büro verbunden mit einem steten (und zumeist vergeblichen) Hoffen auf finanzielle Unterstützung von Seiten der offiziellen Stellen und dem unerschütterlichen Glauben, dass irgendjemand nun einmal diese Arbeit machen müsse – und dieser Jemand müsse sie sein.

„Das war nicht lustig“, sagt sie heute, „ich habe für 80 Stunden Arbeit in der Woche gerade mal das Existenzminimum bekommen.“ Nur durch die Selbstausbeutung und das unermüdliche Engagement einiger weniger habe der Trust bestehen können, sie habe damals oft „das Klagelied der Larmoyanz“ aller Kulturschaffender angeschlagen: „Die Öffentlichkeit hat sich mit ihrer Unterstützung sehr zurückgehalten.“

Gruber stützte sich bei ihrer Arbeit zunächst vor allem auf ein wissenschaftliches Werk: „Orpheus im Exil“ von Walter Pass, Gerhard Scheit und Wilhelm Svoboda. 600 vertriebene, ermordete und vergessene Komponisten und Musiker sind in dem Buch genannt, ihre Werke galten bis dato als verschollen, unbekannt oder nur fragmentarisch vorhanden. Gruber arbeitete es sorgfältig durch und erlebte eine Überraschung: „Ich habe maximal mit der Existenz von 1.000 vergessenen Künstlern gerechnet, doch das war nur die Spitze des Eisberges.“ Mittlerweile zählt ihre Datei 4.700 Personen und über 9.000 Werke, und auch die finanzielle Situation des kleinen Vereins hat sich etwas gebessert. Die Stadt Wien subventioniert das Projekt mit 73.000 Euro, der Bund hat für das erste Quartal 2003 5.000 Euro locker gemacht. Das ist mehr als noch vor wenigen Jahren – dennoch wäre der „Orpheus Trust“ ohne seine 450 Mitglieder und 125 Proponenten nicht so aktiv, wie er sich heute darstellt. Und trotz alledem würde die kontinuierliche Erforschung des Vergessenen auf der Strecke bleiben, gäbe es mittlerweile nicht das vom Wissenschaftsfonds geförderte unabhängige Forschungsprojekt „Verfolgte Musik“ (Leiter Univ.-Prof. Dr. Jürg Stenzl, Mitarbeiter Dr. Gerhard Scheit, Dr. Primavera Gruber, Mag. Dr. Irene Suchy, Mag. Winfried Schneider).

Primavera Grubers unermüdliches Engagement wurde dennoch belohnt: Der Nachlass des Komponisten, Pianisten und Entertainers Fritz Spielmann wurde dem Orpheus Trust überlassen – ein unermesslicher Schatz. Der Wiener Fritz Spielmann, 1906 in Wien geboren, galt als eines der größten musikalischen Talente der 30er Jahre. Er arbeitete für das Kabarett und schrieb unvergessliche Schlager wie „Schinkenfleckerln“- bis die Nazis seinem künstlerischen Aufstieg ein jähes Ende setzten. Er flüchtete via Kuba nach Amerika und wurde dort einer der bekanntesten Schlagerkomponisten seiner Zeit. Er arbeitete mit Show- und Filmgrößen wie Doris Day und Elvis Presley und starb hoch geachtet und verehrt 1997 in seiner New Yorker Wohnung. Bis zu seinem Tod war Spielmann in den USA bekannter als in Österreich. Der Orpheus Trust veranstaltete 1998 ein Fritz-Spielmann-Festival und erforschte das Gesamtwerk des Künstlers.

Im Mai und Juni 2002 folgte das nächste Großprojekt – diesmal unterstützt vom Nationalfonds. Der Orpheus Trust installierte im 7. Bezirk Boxen, aus denen die Musik vertriebener Künstler ertönte – genau vor jenen Häusern, in denen sie einst gelebt hatten. Und das nächste Projekt ist auch bereits verwirklicht: Primavera Gruber gibt ihr erstes Buch über die Musiktherapeutin Vally Weigl heraus. „Give them music“, lautet der Titel – und das beschreibt auch gut Grubers heutiges Lebensmotto. Die Arbeit, sagt sie, habe sie enorm verändert. Sie sei heute noch viel wichtiger als einst. Manchmal, sagt sie, sei es sehr schwer – wenn die Ignoranz der offiziellen Stellen unerklärlich, wenn die österreichische Kleinlichkeit wieder einmal unerträglich ist. In solchen Fällen kann sie immer noch in Fritz Spielmanns Nachlass blättern. Da heißt es in den „Schinkenfleckerln“: „Drum lass ich mich nicht länger häckerln, von den dummen Schinkenfleckerln, denn ich hab schon gnua, von der Schinkenfleckerl-Sekkatur.“ Dann weiß sie, dass schon andere vor ihr mit der österreichischen Kleinlichkeit ihre liebe Not hatten.

Die nächsten Veranstaltungen des Orpheus Trust finden Sie unter www.orpheustrust.at

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