Es konnten bloß neun befragt werden und ein paar wenige mehr werden noch dazu kommen. Bis März 1938 lebten hunderte jüdische Familien in burgenländischen Gemeinden, heute muss die Forschung die Handvoll Überlebender in der ganzen Welt suchen.
Von Peter Menasse
Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, der sich die Burgenländische Forschungsgesellschaft gestellt hat. Die Wissenschaftler aus Eisenstadt wollen die Lebensgeschichten von vertriebenen jüdischen BurgenländerInnen aufzeichnen und im Internet einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Buenos Aires, Montevideo, Dundee, Rockville MD, Jerusalem heißen die Städte, wohin es die Menschen aus Gemeinden wie Sauerbrunn, Deutschkreutz, Oberwart oder Großpetersdorf verschlagen hat.
Durch Jahrhunderte hatten jüdische Familien im Burgenland Zuflucht gefunden. Die Herrschaft der Esterházys im No rd- und Mittelburgenland und jene der Batthyány im Südburgenland sorgten ab dem Ende des 13. Jahrhunderts für ein friedliches Leben in bewegten Zeiten. Nach der Ausweisung der Juden aus Wien im Jahr 1670/1671 wurden die „Sheba qehillot“, die sieben heiligen jüdischen Gemeinden in Deutschkreutz , Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf , Lackenbach und Mattersburg gegründet, die sich in der Folge zu den bedeutensten jüdischen Gemeinden Europas entwickelten. Mit der Zuerkennung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung im Jahr 1867 durften Juden dann auch in anderen Orten des Burgenlandes (damals Westungarn) siedeln. Sie prägten die Kultur der Region und waren ihrerseits von der Kultur ihrer Heimat geprägt. Sie waren ein Stück Burgenland, bis man sie verfolgte und vertrieb.
Die Burgenländische Forschungsgesellschaft hat im Vorjahr damit begonnen, Lebensgeschichten von Juden, die 1938 aus ihrer Heimat flüchten mussten, in Form von Interviews aufzuzeichnen. Die heute über die ganze Welt verstreuten Menschen erzählen über ihre Kindheit im Burgenland, über die Tage der Machtergreifung der Nationalsozialisten und von ihrer rettenden Flucht in fremde Länder. Sie berichten über den schwierigen Neubeginn und über ihre immer noch lebendigen Gefühle zum Burgenland.
Ein erster Teil der Interviews ist seit April im Internet zugänglich (www.forschungesellschaft.at/vertrieben.htm). Es werden die Lebensgeschichten von neun Personen in Form von Kurzbiografien, persönlichen und zeitgeschichtlichen Fotos aus dem Privatbesitz der Befragten und Original-Tonausschnitten aus den Interviews präsentiert. Im Frühjahr 2003 soll eine umfassende Dokumentation von dann dreißig Lebensläufen unter dem Titel „Vergessen kann man nicht. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen“ in Buchform erscheinen. Eine CD-Rom ist ebenfalls geplant.
Martha Gabriel ist 1938 gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester Gertrude aus Eisenstadt nach Argentinien geflüchtet. Wegen des Klimas hierzulande ist sie doch lieber dort geblieben, auch wenn ein Stück kleiner Liebe zu ihrer Heimat immer noch spürbar ist: „Viele können vielleicht nicht verstehen. Es ist nicht eine wirkliche Liebe zu Österreich, aber es ist etwas, woher ich komme. Und ich habe mir Argentinien auch nicht gewählt, ich bin nach Argentinien gekommen, weil ich nirgends anders Eintritt bekommen habe. Zum Glück habe ich Glück gehabt in Argentinien, und habe schön hier gelebt, und wir leben froh und zufrieden. Aber gewählt habe ich es mir nicht. Ich habe geglaubt, ich werde mein Leben lang in Eisenstadt oder Wien sein, werde einmal heiraten, werde Kinder haben, so wie meine Vorfahren es gehabt haben, und die waren alle glücklich und froh da. Da musste jemand kommen, der ihnen was anderes gelehrt hat.“