Alfried Längle, Begründer der Existenzanalyse und langjähriger Freund des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl, beschäftigt sich mit den psychischen Folgen von Corona und Lockdowns.
Von Gabriele Flossmann
Der Frühling war kalt, der Sommer ließ sich Zeit, die Gärten und Parks wirkten im Mai immer noch leerer als in „normalen“ Jahren. Restaurants und Kulturstätten haben zwar mittlerweile wieder geöffnet – doch körpernahe Begegnungen mit anderen Menschen verunsichern immer noch. Studien zeigen, dass seit Beginn der Coronapandemie psychische Erkrankungen zugenommen haben. Mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Einfluss der Pandemie auf die Psyche zu den bisher am meisten unterschätzten Gefahren der Krise gehört. Während des nahezu weltweiten Lockdowns haben sich wohl mehr Menschen denn je die Frage nach dem Sinn jenes Lebens gestellt, dem wir derzeit ausgesetzt sind. Und auch der Begriff einer „neuen Normalität“ danach erscheint vielen bedrohlich.
Wissenschaftler nehmen daher seit einiger Zeit verstärkt die seelische Gesundheit der Bevölkerung in den Blick. Einer von ihnen ist Alfried Längle, Gründer der Existenzanalyse und langjähriger Freund des 1997 verstorbenen österreichischen Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl. Längle, der im März seinen 70. Geburtstag feierte, ist Professor an der Wirtschaftshochschule Moskau, Gastprofessor an der Sigmund-Freud-Universität Wien, Dozent am Institut für Psychologie der Universität Klagenfurt und Gründungsmitglied und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) mit Sitz in Wien, wo er auch in seiner eigenen Praxis für Psychotherapie ordiniert. Er vertritt die Auffassung, dass die Kunst, sein Leben persönlich zu leben, nicht delegierbar sei. Mit anderen Worten: Erst einmal müsse man mit sich selbst klarkommen, ehe man sich erfolgreich dem alltäglichen (Über-)Lebenskampf stellen kann.
Die Einsicht in die eigene Existenz und die darauf aufbauende Suche nach einem (neuen?) Sinn des Lebens sind dabei wichtige Voraussetzungen. Mit dem Doppelbegriff „Existenzanalyse und Logotherapie“ wird bis heute die sogenannte „Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“ bezeichnet, die in den 1920er und 1930er Jahren von Viktor E. Frankl begründet und in den 80er Jahren maßgeblich von Längle weiterentwickelt wurde. Sinn und Sinnlosigkeit sind nicht nur Schlüsselbegriffe in Frankls Lebenswerk, sondern auch ein Forschungsmittelpunkt Längles. Er will den Menschen dabei helfen, dem Leben nach Corona (wieder) einen Sinn zu geben.
Sigmund Freud war noch davon überzeugt, dass ein Mensch, der nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, krank sei, weil allein schon die Frage die unbefriedigte Libido eingestehe. Längle hingegen sieht in der Frage kein Symptom einer Krankheit. Sie ist für ihn im Gegenteil der Beweis des Menschseins. Zum Phänomen, dass zu den Pandemie- Bewältigungsritualen auch Auswüchse wie Verschwörungstheorien und gesellschaftlicher Rechtsruck gehören, zitiert er Frankl: „Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagt ihm keine Tradition mehr, was er soll. Und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er eigentlich will. So kommt es, dass er entweder nur will, was die anderen tun – und da haben wir den Konformismus – oder aber er tut nur, was die anderen von ihm wollen, und da haben wir den Totalitarismus.“
NU: Das Coronavirus hält uns länger im Griff, als wir anfangs dachten. Wahrscheinlich spüren viele die Anzeichen einer depressiven Verstimmung, die mit den Gefühlen von Eingesperrtsein, Einsamkeit, Hilf- und Hoffnungslosigkeit einhergeht. Konnten Sie in den letzten Monaten einen Zuwachs an Patienten mit solchen Symptomen verzeichnen?
Alfried Längle: Verunsicherung, Enge und Ängstlichkeit haben sich besonders zu Beginn der Pandemie gehäuft. Im Winter kam es dann zu einem großen Anstieg an Depressionen. Insbesondere bei Jugendlichen, Frauen und Arbeitslosen. Ich konnte beobachten, wie sich durch diese ungewöhnliche Zeit ein ganzes Spektrum von psychopathologischen Symptomen aufgetan hat. Beginnend mit einer Verunsicherung, die sich zur Angst steigerte, als davon die Rede war, dass „bald jeder jemanden kennen wird, der an Corona gestorben ist“. Dazu kam die dunkle Jahreszeit mit der Gewissheit, dass uns die Pandemie wohl mindestens bis zum Sommer begleiten würde. Inzwischen zerrte die Einengung durch immer neue Lockdowns an den Nerven der Menschen. Sogenannte Coronapartys und geheime Treffen in Wohnungen und Hinterzimmern von Gasthäusern sind zwar unverantwortlich, aber zumindest menschlich verständlich. Aber die geradezu hysterische Überreaktion, die Menschen zu Demonstrationen treibt, hat psychische Ursachen. So wie auch das Suchtverhalten, das in der letzten Phase der Pandemie immer mehr zugenommen hat.
Werden wir mithilfe von Impfungen und Medikamenten wieder zu so etwas wie Normalität zurückkehren können?
Zuerst einmal müssen wir herausfinden, ob und wie wir die verschiedenen Virusmutationen bekämpfen können. Corona wird bleiben, und wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir immer wieder Auffrischungsimpfungen brauchen. Vielleicht müssen wir auch zu bestimmten Jahreszeiten die Maske zumindest griffbereit halten. Ganz so, wie es war, wird es kaum werden.
Könnten auch der Anstieg der Gewalt gegen Frauen und die zunehmende Zahl an Femiziden mit den Lockdowns zu tun haben? Indem vielleicht Männer ihre als „unmännlich“ empfundenen Ängste mit Gewaltausbrüchen abreagieren?
Dazu gibt es Daten, wonach die familiäre Gewalt im ersten Lockdown gar nicht so signifikant gestiegen ist. Erst nach der mehrfachen Verlängerung der Lockdowns kam es zu einer besorgniserregenden Zunahme. Zum Teil hängt diese Entwicklung mit der Einschränkung des Bewegungsdrangs zusammen, weil Männer ihre positiven und negativen Energien nicht mit sportlicher Betätigung abbauen konnten. Dazu kommt, dass die männliche Depression an sich schon eine andere Symptomatologie hat als die weibliche. Die männliche Depression ist unleidlich und gereizt, und im gereizten Zustand reagiert sie schneller mit Aggression.
Die Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu glauben, hat im Zuge der Pandemie zugenommen. Auch ein Rechtsruck in der Politik scheint damit einherzugehen. Wie sehen Sie da den Zusammenhang?
Das hat einen sehr direkten Zusammenhang. Wenn man verunsichert ist und sich schwach fühlt, dann sorgt jede Theorie, die eine Behauptung aufstellt und keinen Widerspruch dagegen zulässt, dafür, dass man wieder festen Boden unter den Füßen spürt. Und daher glauben Menschen an Verschwörungstheorien, die ihnen vorgeben, dass sie nun genau und besser als andere wüssten, was hier gespielt wird. Und weil sie nun das Spiel der Politiker und böser Mächte durchschauen, bekommen Verschwörungsgläubige dazu noch ein Gefühl der Überlegenheit. Sie glauben, andere für blöd erklären zu können, die das Spiel nicht so durchschauen können. Die Impfverweigerung, die QAnon-Bewegung sind eine Folge davon. So wie der Irrglaube, dass Donald Trump, als er noch US-Präsident war, der Retter gegen Corona und anderes Ungemach hätte sein können. Mit Gegenargumenten kann man diesen Menschen nicht beikommen. Denn die Verschwörungstheorien wirken auf sie wie psychologische Schutzschilde. Würde man ihnen diese Schutzschilde entreißen, würden ihre psychischen Probleme überhandnehmen.
Springen die Vertreter rechter Ideologien auf einen Karren auf, mit dem sie demokratischen Regierungen in die Quere kommen können, oder sind rechte Politiker selbst Verschwörungstheoretiker?
Die rechte Ideologie steht ja für „Law and Order“. Also für feste Regelungen, die Sicherheit verschaffen und Halt geben sollen. Und darum glauben und verbreiten rechte Ideologen und Politiker gerne Verschwörungstheorien, weil sie vorgeben, finstere Machenschaften hinter demokratischen Strukturen zu durchschauen und eine neue Ordnung herzustellen. Die Verunsicherung und Ängste, die das Coronavirus ausgelöst hat, kommen populistischen Politikern gerade recht. Rechte Ideologien wurzeln zwar nicht so tief in der Pathologie wie die Verschwörungstheorien, aber sie spielen einander in die Hände.
Die Coronakrise scheint auch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu befeuern. Warum kommt es nach islamistischen Terroranschlägen gegen Synagogen und jüdische Einrichtungen nicht zu einem Schulterschluss der Österreicher mit den österreichischen Juden?
Da müsste man zuerst einmal der Frage nachgehen, ob die Österreicher die hier lebenden Juden als „Einheimische“ ansehen oder immer noch als „Fremde“. Viktor Frankl hat sich immer dagegen gewehrt, dass Juden sich oft selbst nicht als völlig integriert ansehen. Er hat oft Bruno Kreisky als Gegenbeispiel zur „Selbst-Ghettoisierung“ genannt, mit der sich viele Juden ein- und von der restlichen Bevölkerung abgrenzen. Diese Tendenz hat Frankl aber nicht nur in Österreich festgestellt. Dass es immer noch Antisemitismus gibt, kann ich nicht verstehen. Gerade im Wissen um das, was diesen Menschen angetan worden ist, sollte da eher eine Sympathiebewegung entstehen. Also genau das Gegenteil von Antisemitismus. Warum das nicht so ist, verstehe ich nicht als Mensch und schon gar nicht als Psychologe.
Viktor Frankl war seit Beginn Ehrenpräsident der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Was verbindet Sie mit Ihrem Lehrer und Freund?
Frankl war für mich wirklich ein wichtiger Lehrmeister. Ich habe von ihm das genaue Denken in den Bereichen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie gelernt – und auch viel an philosophischem und anthropologischem Hintergrund. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar. Wir haben über zehn Jahre hinweg viele sehr gute, interessante, auch humorvolle, witzige, lustige Gespräche geführt. Das verbindet mich nach wie vor mit ihm.