Die Geschichte der Palästinenser seit der Gründung des Staates Israel Mitte Mai 1948 zeigt eine lange Liste versäumter Gelegenheiten, missed opportunities von arabischer Seite
Von Michael Reinprecht
Sie lehnten den UN-Teilungsplan von 1947 ab, nahmen die Chance auf einen unabhängigen arabischen Staat Palästina und Wahrung ihres Selbstbestimmungsrechtes nicht wahr. Stattdessen erklärte die arabische Welt dem gerade erst entstandenen jungen Staat Israel den Krieg – und verlor. Auch nach dem Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 unterbreitete Israel Ägypten und Syrien ein Friedensangebot: Land gegen Frieden, Rückgabe der Sinai-Halbinsel, Gazas und der Golanhöhen gegen Anerkennung und Normalisierung der Beziehungen. Die Antwort der Arabischen Liga ist als „The Three No’s“ in die Geschichte eingegangen: Keine Verhandlungen mit Israel, keine Anerkennung Israels, kein Frieden mit Israel.
Es sind die versäumten Chancen, welche die Geschichte der arabischen Bevölkerung des ehemalig britischen Völkerbund-Mandatsgebietes Palästina charakterisieren. Erst verließen sie sich auf die Mitgliedstaaten der Arabischen Liga, die 1948 schlecht vorbereitet in diesen Krieg gingen und auf erbitterte Gegenwehr der jüdischen Verbände stießen. Das junge Israel kämpfte um seine schiere Existenz, Ägypten, Jordanien, Syrien, der Libanon und Irak hingegen um potentielle Landgewinne. Ägypten eroberte die Sinai-Halbinsel und Gaza, Syrien die Golanhöhen. Das Königreich Jordanien verdoppelte sein Territorium um die fruchtbaren Gebiete westlich des Jordan sowie Ostjerusalem. An die 750.000 arabische Bewohner des eben erst von den Briten freigegebenen Mandatsgebietes Palästina flüchteten in die arabischen Nachbarstaaten. Untergebracht wurden sie in Flüchtlingslagern, wo sie und ihre Nachkommen großteils heute noch ohne Bürgerrechte leben, denn sie wurden niemals integriert, nicht mal eingegliedert in den Arbeitsmarkt des jeweiligen „Gastlandes“.
„Gleich allen anderen Völkern, ist es das natürliche Recht des jüdischen Volkes, seine Geschichte unter eigener Kraft selbst zu bestimmen. Demzufolge haben wir, die Mitglieder des Nationalrates, als Vertreter der jüdischen Bevölkerung und der zionistischen Organisation, heute, am letzten Tage des britischen Mandats über Palästina, uns hier eingefunden und verkünden hiermit Kraft unseres natürlichen und historischen Rechtes und aufgrund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Errichtung eines jüdischen Staates im Lande Israel – des Staates Israel.“ So steht es in der Unabhängigkeitserklärung Israels, verlesen von David Ben Gurion am 14. Mai 1948. Das Narrativ Israels steht in der Bibel und in den Schriften Theodor Herzls, rechtlich stützte sich die Unabhängigkeitserklärung auf Resolution 181 der UN-Vollversammlung von Ende November 1947. Dies hätte auch die arabische Bevölkerung Palästinas haben können. Allein, ihr Narrativ heißt „Nakba“, wörtlich übersetzt „die Katastrophe“: Flucht und Vertreibung. Erst aus dieser Erzählung, „das Opfer israelischer Willkür zu sein“, hat sich eine nationale Identität herauszuschälen begonnen. „Palästina“ hieß das Land seit dem Jahr 136 als Kaiser Hadrian das etwa 200 Jahre zuvor von den Römern eroberte „Judäa“ umbenannt hatte. Und dies blieb so bis zum Mai 1948. Unter osmanischer Herrschaft, die Mitte des 13. Jahrhunderts mit der Vertreibung mamlukischer Dynastien begonnen hatte, waren es einfach Araber – die meisten Moslems, wenige Christen und einige Juden – die in Palästina lebten, nationale Identität war damals (noch) kein Thema. Nationale Erweckung zeichnete Europa bis hin zum Balkan erst ab dem 19. Jahrhundert aus. Und die Levante? Sind die Palästinenser also ein „erfundenes Volk“, wie es 2012 Newt Gingrich – damals in den Vorwahlen der Grand OId Party um seine Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat kämpfend – behauptet hatte? Das ist wohl überspitzt formuliert. Doch in der Tat taucht der Begriff „Palästinenser“ erst spät, in der PLO-Charta von 1964 und in UN-Dokumenten erstmals 1974 auf.
Die arabische Bevölkerung des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina, dessen Führer 1947/48 die Chance zur Selbstbestimmung, ja zu einem eigenen Staat ungenutzt verstreichen ließen und sich bis Mitte der 60iger Jahre völlig in die Abhängigkeit der Arabischen Liga begaben, erwachte erst spät aus ihrer nationalen Lethargie. Und ihre politische Führung schlug dann einen Weg zu nationaler Erweckung ein, der bis heute bestimmend ist: den „bewaffneten Kampf“. Mit dem Ziel Israel von der Landkarte zu tilgen und auf dem Gebiet der ehemaligen osmanischen Provinz ihren eigenen Staat, die Republik Palästina, zu errichten. „From the River to the Sea“: Die „Befreiung“ des Landes vom Mittelmeer bis zum Jordan ist grundlegendes Ziel, tönte es in den 70iger Jahren immer wieder von Seiten der PLO-Führung unter Jassir Arafat. Und in einem Interview mit der britischen Times vom 5. August 1980 fügte Arafat hinzu: „Friede heißt für uns die Zerstörung Israels. Wir sind für den totalen Krieg vorbereitet, der Generationen dauern kann“. Und der spätere Friedensnobelpreisträger ergänzte: „Wir werden nicht ruhen, bis wir Israel zerstört haben“.
Dreizehn Jahre später, im Rahmen des Osloer Friedensprozesses, anerkannte die PLO zwar die Existenz des jüdischen Staates, „das Recht Israels in Frieden und Sicherheit zu existieren“, allein gegenüber arabischen Medien wurden die Hintergedanken, dass nämlich der nun verhandelte Frieden nur ein Zwischenschritt zur völligen „Befreiung Palästinas“ sei, offen dargelegt. Kein Wunder also, dass Arafat dann im Sommer 2000 das vom damaligen Premier Ehud Barak unter Vermittlung des US-Präsidenten Bill Clinton unterbreitete Angebot einer Zwei-Staaten-Lösung ablehnte. Mit dem Beharren der palästinensischen Delegation auf dem vollen Rückkehrrecht der 1948 geflohenen Palästinenser und seiner Unnachgiebigkeit in der Jerusalemfrage war Arafat zu weit gegangen. Seine Antwort war Nein. Ein klares Nein. Die Chance für einen unabhängigen palästinensischen Staat vertan. Arafats Position hatte es in sich, Israel seinen jüdischen Charakter zu nehmen, das Land demografisch zu zerstören.
Israel indessen kann auf eine Reihe von Angeboten an die Araber zurückblicken: Schon im Jänner 1919 – im Vorfeld der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg – hatten Chaim Weizmann und Emir Faisal ein Abkommen unterzeichnet, demzufolge Palästina politisch neu geordnet werden sollte und zwar mit einem haschemitisch-arabischen Königreich neben einem künftigen jüdischen Staat. Das Abkommen war nie in Kraft getreten, weil es in Folge des bereits 1916 vereinbarten Sykes-Picot-Abkommens zum (letztlich von den Briten wahrgenommenen) Völkerbundmandat über die ehemalige osmanische Provinz Palästina gekommen war und ein arabisches Königreich nicht mehr auf der Tagesordnung stand.
Das arabische Nein vom Sommer 2000 allerdings reiht sich in die Reihe verpasster Chancen, einen palästinensischen Staat zu gründen, ein. Es sollte die bislang letzte Gelegenheit sein. Die Vereinbarungen aus dem Osloer Prozess blieben Stückwerk und statt Frieden am Horizont gab die folgende Zweite Intifada den Startschuss zu turbulenten, von Gewalt und Terror geprägten Jahren. Erst der bald folgende Bau des Sicherheitszaunes, welcher nun die besetzten Gebiete von Israel trennt, reduzierte schlagartig die Zahl palästinensischer Terrorakte in Israel. Ruhe kehrte ein. Die Ruhe vor dem Sturm.
Denn die laizistischen, zum Teil der Linken zuzurechnenden „Befreiungsorganisationen“, sind heute realpolitisch von noch radikaleren, fundamental-muslimischen Organisationen abgelöst. Von der Hamas, den Kassem-Brigaden und dem islamischen Jihad: Terrorgruppen die für das Pogrom, diese unmenschlichen, schrecklichen, bestialischen Massaker vom 7. Oktober 2023 und die Geiselnahme von mehr als 200 Israelis verantwortlich sind. Angesichts dieser Entwicklungen ist der Middle East Process und das damit verbundene Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung völlig in den Hintergrund getreten. Wie schon 1947/48 geht es heute um die Existenz, um die Zukunft des Staates Israel.