Verhärtete Fronten

Ultraorthodoxe jüdische Männer und Jugendliche protestieren im April 2024 vor einem Rekrutierungsbüro der Armee in Jerusalem gegen die israelische Wehrpflicht. ©MENAHEM KAHANA/AFP/picturedesk.com

Von Valentin Schmid

Als im vergangenen Jahr unzählige Journalisten nach Israel strömten, um über die Folgen des Hamas-Terrors zu berichten, machte ein Thema die Runde. „Armee bekommt überraschend Zulauf“ titelte eine Zeitung, „Ultraorthodoxe Überraschung“ eine andere. Die Theorie: Nach dem 7. Oktober haben selbst die Haredim ihre Haltung zum Militär geändert, wollen das Land verteidigen. Bilder orthodoxer Familienväter tauchten auf, die in Schlangen vor den Rekrutierungsbüros der IDF (Israel Defense Forces) warteten. Darunter sogar der Sohn von Arje Deri, Chef der ultraorthodoxen Schas-Partei.

Doch bald zeichnete sich ab, dass der Annahme einer „ultraorthodoxen Überraschung“ eines fehlt: belastbare Zahlen. Schätzungsweise 1.000 Haredim entschieden sich seit Kriegsbeginn für einen Kurzzeit-Dienst bei den IDF, wohingegen 66.000 haredische Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren nach wie vor von einer Ausnahme profitieren: Statt den Wehrdienst zu leisten dürfen sie Tora lernen.

Ben-Gurions Kompromiss

Als Israels Staatsgründer David Ben-Gurion Haredim von der Wehrpflicht befreite, betraf das ungefähr 400 Männer, weniger als ein Prozent. Zwar war Ben-Gurion nie von der Relevanz der Talmud-Studien überzeugt, doch um alle jüdischen Gruppen in den neuen Staat einzubeziehen, nahm er den Kompromiss in Kauf.

Über die Jahrzehnte wuchsen die haredischen Juden schneller als jede andere Gruppe in Israel. Heute machen sie schon 13 Prozent der Bevölkerung aus, 2050 werden laut einer Prognose des Demokratieinstituts 40 Prozent der potenziellen Rekruten Haredim sein – und der Armee fehlen. Die Sorge darüber wächst, denn schon jetzt zeigt sich durch den Gazakrieg ein Mangel an Soldaten. Während sich die Debatte früher vor allem um Gleichberechtigung drehte, geht es jetzt auch um die pure Notwendigkeit.

Ende März landete die erhitzte Diskussion wieder in den Schlagzeilen. Das Oberste Gericht hatte der Regierung angeordnet, staatliche Subventionen für ultraorthodoxe Männer im wehrpflichtigen Alter zu streichen, die an Jeschivot studieren. Zudem sei das Militär nun dazu verpflichtet, die Studenten zum Dienst einzuziehen. Auf den zweiten Blick ist auch das keine Neuigkeit. Bereits 1998 wurde die Wehrpflicht-Befreiung für rechtswidrig erklärt. Seitdem scheiterten zahlreiche Versuche, die Wehrpflicht gesetzlich zu regeln. Manche vor Gericht, manche an politischem Unwillen. 

„Mehr als 25 Jahre sind verstrichen, seit das Oberste Gericht die Nichtrekrutierung von Jeschiva-Schülern für ungültig erklärte“, fasste es kürzlich Nimrod Schafer, früherer Staatschef der Luftwaffe, zusammen. „Seitdem wechselten sich die Regierungen ab und die Politiker taten alles dafür, uns wieder und wieder für dumm zu verkaufen – und das Gericht ließ es zu und normalisierte es.“

Kein Schmelztiegel

Was motiviert die Ultraorthodoxen, sich so hartnäckig gegen den Militärdienst zu wehren? Die Gründe sind vielschichtig und gehen über die religiöse Ablehnung des israelischen Staates hinaus, die manche haredische Strömungen kennzeichnet. Eine Studie der Universität Tel Aviv zeigt sogar, dass die Identifikation ultraorthodoxer Juden mit Israel nach dem 7. Oktober deutlich anwuchs.

Doch die ultraorthodoxen Rabbiner meinen, dass das Studium der religiösen Schriften das Volk Israel nicht weniger schütze als das Militär. Ein Konzept, das etwa Rabbi Yehoshua Pfeffer als „Torah Dome“ bezeichnete – eine Anspielung auf den „Iron Dome“, das israelische Raketenabwehrsystem.

Ganz anderer Meinung ist Rabbiner David Stav, Vorsitzender der Organisation Tzohar, die Brücken zwischen säkularen und religiösen Israelis bauen möchte. „Es ist wichtig, die Wahrheit zu sagen. Das Establishment der Ultraorthodoxen hat Angst, dass ihre Kinder von der säkularen Umgebung beeinflusst oder selbst säkular werden.“ Damit spielt Stav auf die selbstgewählte Isolation vieler Haredim an. Obwohl die meisten in Jerusalem oder der Region Tel Aviv leben, pflegen sie keinerlei Kontakt zu anderen Bevölkerungsgruppen. Viele haredische Männer dürfen bis zu ihrer Hochzeit keine Frau ansehen oder berühren – selbst der Internetzugang wird durch Suchfilter „koscher“ gehalten. Kurzum: Das Gegenteil vom sogenannten „Schmelztiegel“ IDF, in dem Israelis aus allen Teilen der Gesellschaft zusammenkommen.

Zuckerbrot und Peitsche

„Ultraorthodoxe, die zum Militär gehen, sollten Bildungsgutscheine erhalten, mit denen sie säkulare Abschlüsse machen können.“ Stav wirbt für ein konsequentes Vorgehen. „Wer mit 18 Jahren den Militärdienst verweigert, darf keinerlei Subventionen mehr vom Staat erhalten und sollte kein Regierungsamt ausfüllen dürfen.“ Dieser Weg sei deshalb erfolgversprechend, weil er keine Zustimmung der ultraorthodoxen Rabbiner voraussetzt. Allein auf die Regierung komme es an.

Tatsächlich fordern auch in der Partei von Premierminister Netanjahu vermehrt Stimmen, die Ultraorthodoxen stärker in die Pflicht zu nehmen. Allerdings hängt die Regierungsmehrheit von drei strengreligiösen Parteien ab. Alle Einigungsversuche für eine neue Regelung sind bislang gescheitert.  „Diese Regierung wird keinen einzigen Haredi bewegen, ins Militär zu gehen“, so Rabbi Stav.

Bleibt die Frage, was das Militär tun kann, um sich auf Ultraorthodoxe zuzubewegen. „Die Armee hat separate Kasernen, komplett ohne Frauen, geschaffen“, erklärt Shuki Friedman, Vizepräsident des israelischen Thinktanks JPPI und langjähriger Reserve-Kompaniechef. „Dort können sie zugleich dienen und ihre Identität bewahren.“

Eines dieser Projekte nennt sich „Netzach Jehuda“, ein Infanteriebataillon nur für orthodoxe Juden. Leider muss sich Netzach Jehuda immer wieder Menschenrechtsverstöße vorwerfen lassen, Ende April sogar von den USA. Viele Soldaten des Bataillons werden der Siedlerbewegung zugerechnet. Ein anderes Modell ist in Israel als „Hesder“ (deutsch: Arrangement) bekannt. Diesen Kompromiss aus Tora-Studium und Militärdienst, in der Regel über fünf Jahre, wählte auch David Stav. Die Hesder-Absolventen gelten jedoch in den IDF oft als geringer qualifiziert.

Eine Patentlösung gebe es nicht, sagt Friedman, aber einen wichtigen Lerneffekt. „Wir dürfen nicht ‚die‘ Ultraorthodoxen als Gruppe ansprechen. Wir müssen den Einzelnen erreichen, das Individuum. Wenn die Leiter der Ultraorthodoxen kein Vetorecht mehr haben, kann sich die Situation ändern.“

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