„Ich verstehe überhaupt nicht, wie wenn einer Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann.“ Jörg Haiders umstrittene Verbalattacke gegen Ariel Muzicant sorgte landesweit für Empörung. Doch die Staatsanwaltschaft hat die Anzeige zurückgelegt. Denn Österreichs Gerichte sind zurückhaltend bei der Verurteilung wegen antisemitischen Übergriffen durch Worte.
Von Alexia Weiss
Existiert verbaler Antisemitismus in Österreich? Wer lediglich die offiziellen Statistiken studiert, könnte meinen, antijüdische Aussprüche und Drohungen kämen hierzulande gar nicht vor: Der Rechtsextremismus-Bericht des Innenministeriums weist für das abgelaufene Jahr 2000 insgesamt 450 einschlägige Anzeigen, davon 336 „Tathandlungen“ aus: 291 davon werden als „rechtsextremistisch“, 36 als „fremdenfeindlich“ und neun als „antisemitisch“ bezeichnet. Als strafrechtlich relevant wurden davon registriert: vier Körperverletzungen, vier schwere Sachbeschädigungen, zwei versuchte Spreng- bzw. Brandanschläge, ein Raufhandel und eine „gefährliche Drohung“ – ergibt insgesamt 13 Straftaten. Acht davon waren fremdenfeindlich, fünf antisemitisch motiviert. „Bei den antisemitischen Tathandlungen handelte es sich überwiegend um Sachbeschädigungen, wobei ein jüdischer Friedhof, ein Denkmal und eine im Wiederaufbau befindliche Synagoge Zielscheiben dieser Ausschreitungen waren“, heißt es in dem Report des Innenministeriums.
Von rein verbal begangenen Ve rgehen – also in der Öffentlichkeit vorgebrachten Äußerungen, die unter die Bestimmungen des Verbotsgesetz bzw. des Strafgesetzbuches fallen – ist keine Rede.
Martin Polaschek vom Institut für Rechtsgeschichte der Universität Graz, der sich im Lauf seiner wissenschaftlichen Karriere intensiv mit dem Thema Wiederbetätigung auseinandergesetzt hat, meint: „Juristisch gesehen ist der Haiders Ausspruch nicht Wiederbetätigung, nicht einmal Verhetzung“.
Hätte Haider sein Wortspiel nicht mit Ariel, sondern mit dem weiblichen Vornamen Sara gemacht, wäre der Fall eindeutiger: Der Name sei durch die Tatsache, dass ihn Frauen während des NS-Regimes als zweiten Vornamen tragen mussten, als „Verherrlichung“ zu bezeichnen. Dennoch gibt es Formulierungen, die eindeutig unter das Verbotsgesetz fallen: Die „Auschwitz-Lüge“ etwa.
Doch das Leugnen der systematischen Vernichtung von Juden im Dritten Reich geht heutzutage in der Öffentlichkeit niemandem mehr leicht von den Lippen. Dazu ist die Sensibilität doch bereits zu hoch. Verbale Wiederbetätigung von heute ist subtiler.
Und in solchen Fällen, so Polaschek, sei die Staatsanwaltschaft „relativ zurückhaltend“. Das habe auch die Nichtahndung des „Meine E h re heißt Treue“-Ausrutschers des niederösterreichischen FPÖ-Chefs Ernest Windholz gezeigt.
Von Seite der Anwälte gibt es Verständnis für diese eher zurückhaltende Handhabe. Denn: „Gäbe es eine überzogene Strafraxis“, so Ewald Scheucher von der Kanzlei Lansky/Prochaska gegenüber „NU“, „würde nach außen hin der Eindruck erweckt, dass Österreich hier ein massives Problem habe“. Tatsächlich sei die Situation in Frankreich oder Deutschland aber wesentlich besorgniserregender. Es gelte immer, diese Dimensionen im Auge zu haben.
Die Kanzlei Lansky/Prochaska hat auch für Muzicant die Klagen wegen Verhetzung ausgearbeitet. Nach der negativen Entscheidung der Staatsanwaltschaft setzt man nun auf Individualverfahren.
Eine Möglichkeit, die Sensibilität der Gerichte zu schärfen, wäre eine neuerliche Novellierung des 1992 überarbeiteten Verbotsgesetz. Doch eine zu genaue Regelung – indem etwa Beispielsätze gesetzlich festgeschrieben würden – würde Nachahmungstäter erst recht motivieren, argumentiert der Grazer Jurist Polaschek. So sagte etwa der FPÖ-Bundesrat John Gudenus zum Verbotsgesetz in der Fassung von 1992: Er glaube alles, was ihm vorgeschrieben werde.
Das Verbotsgesetz wurde am 8. Mai 1945 beschlossen, um die NSDAP zu verbieten. In seiner ursprünglichen Fassung verstand es sich als Mittel zur Lösung des Nationalsozialistenproblems im Allgemeinen. Die Absicht war, alle Spuren der Nazi-Ideologie zu bereinigen. Allerdings stellte es sich im Lauf der Jahre als nicht effizientes Mittel der Bekämpfung von Neonazismus heraus. 1992 erfolgte daher die richtungsweisende Novellierung. Und die Gesetzesänderungen von 1992 haben durchaus Wirkung gezeigt.
Der entscheidende Eingriff: Bei der Verbotsgesetz-Novelle wurde das Strafausmaß herunter gesetzt. Damit haben Schöffen weniger Hemmungen, auf schuldig zu plädieren. Und dadurch haben offenbar die Verurteilungen zugenommen. Die Wiener Juristin Nina Nagler zeigt diese Tatsache in ihrer Dissertation („Die strafrechtliche Bekämpfung neonazistischer und rassistischer Aktivitäten“, eingereicht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Juli 1999) deutlich: 1989 gab es sechs Schuldsprüche, 1990 einen, 1991 keinen. 1992 fünf. Und dann beginnt die Novellierung zu greifen: 1993 kam es zu 17 Verurteilungen, 1994 zu 20, 1995 zu 22, 1996 zu 21. Für das Vorjahr weist das Justizministerium 32 auf Grund des Verbotsgesetzes verurteilte Personen aus.
Doch auch die öffentliche Meinung hat dazu beigetragen, dass antisemitische Aussagen nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Wendepunkt in Österreich, so Nagler und Polaschek unisono, sei die Debatte um die Vergangenheit des ehemaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim 1986 gewesen. Im Gegensatz zu Deutschland hatte sich Österreich bis zu diesem Zeitpunkt stets als Opfer deklariert. Ehemalige Nationalsozialisten wurden nach dem Krieg nicht nur rasch wieder in den Alltag integriert, sie stellten bald auch wichtiges Wählerpotenzial dar. Und um dieses buhlte, so Polaschek, nicht nur die VDU, die Vorgängerpartei der FPÖ, sondern auch die SPÖ und die KPÖ. In diesem Klima habe es wenig bewusste Auseinandersetzung gegeben. Wenn man heute Nationalratsprotokolle aus den fünfziger Jahren nachlese, stoße man auf Äußerungen, die heute nur mehr Kopfschütteln verursachen w ü rden – und zwar quer durch alle Fraktionen.
Kopfschütteln könne man aber auch, wenn man so manchem österreichischem Wirtshausgespräch anno 2001 lausche. Da würden manchmal Dinge gesagt, die man in Deutschland heute in der Öffentlichkeit niemals mehr so sagen könnte.
Fazit der Experten: das Zurückdrängen verbaler Aussagen, die verhetzend sind oder sogar unter das Verbotsgesetz fallen, ist eine Frage des politischen Klimas, der politischen Auseinandersetzung. Gefragt sei die „moralische Verurteilung“ durch die gesamte Gesellschaft.