Unmittelbar nach dem Massaker der Hamas reiste ich gemeinsam mit Parlamentariern aus sieben EU-Staaten nach Israel. Es war die aufwühlendste und erschreckendste Reise meines Lebens. Ein Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben.
Von Martin Engelberg (Text und Fotos)
Nur wenige Stunden nach dem schockierenden Angriff auf Zivilisten im Süden von Israel mit 1.200 bestialisch Ermordeten und der Verschleppung von mehr als 200 Geiseln nach Gaza wurden von Seiten der Hamas Berichte lanciert, wonach Israel die Situation aufgebauscht hätte, beziehungsweise die langjährige „Besatzung“ von Gaza den Anstoß für den Überfall auf israelische Zivilisten geliefert hätte. Um sich selbst ein Bild machen zu können, lud ELNET (European Leadership Network) 17 Parlamentarier nach Israel ein. ELNET arbeitet als europäische unabhängige und parteiübergreifende Organisation an einer starken Partnerschaft zwischen europäischen Ländern und dem Staat Israel mit dem Ziel, die Beziehungen zu Israel auf der Grundlage gemeinsamer demokratischer Interessen und Werte zu fördern.
Schon der erste Eindruck nach meiner Ankunft auf dem Flughafen Ben Gurion war tatsächlich niederschmetternd. Die Fahrt in die Stadt, üblicherweise in kilometerlangen Staus, verlief anders als üblich, nur wenige Autos waren unterwegs. In Tel Aviv, eine Stadt, die ich stets als eine unglaublich lebhafte, laute und fröhliche erlebt hatte, herrschte gespenstische Ruhe. Das sogenannte Little Manhattan war an diesem Arbeitstag wie ausgestorben. Bis auf wenige Supermärkte waren die Geschäfte geschlossen, alle Restaurants oder Kaffeehäuser hatten ihren Betrieb eingestellt. Auch in unserem Hotel herrschte quasi Notbetrieb, obwohl das Hotel ausgebucht war. Die „Gäste“ waren israelische Familien, die aus den Ortschaften im Süden, an der Grenze zum Gazastreifen, evakuiert worden waren. Auch unter ihnen war die Stimmung mehr als gedrückt. Alle stammten aus Kibbuzim, die in unmittelbarer Nähe zu den Ortschaften liegen, in denen die Hamas gewütet hatte. Meist waren sie am Telefon, um mit Familienmitgliedern und Freunden zu sprechen.
Neben Österreich nahmen auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus Griechenland, Kroatien, Deutschland, Tschechien, Slowenien, Belgien, Spanien, Frankreich und Bulgarien teil. Unsere erste Begegnung fand mit Familien statt, deren Angehörige von der Hamas als Geiseln verschleppt worden waren. Die Mutter der 21-jährigen Mia Shem erzählte uns unter Tränen, wie sehr sich ihre Tochter auf das Supernova-Musikfestival gefreut hatte. Nach verzweifelten Anrufen sah die Mutter dann unter vielen Aufnahmen von der Erstürmung des Festivals durch die Hamas, wie ihre Tochter verschleppt wurde. Wir wurden gebeten, alles Menschenmögliche zu tun, um mitzuhelfen, dass die Geiseln befreit würden. „Das Schicksal hat ein Gesicht, das meiner Tochter. Bitte berichten Sie darüber. Die Welt soll wissen, was hier passiert ist“, bat Mias Mutter. Unter den Familien, die von ihren Angehörigen berichteten, war auch der Enkel von Oded und Yocheved Lifshitz, 83 und 85 Jahre alt. Yocheved Lifshitz wurde mittlerweile freigelassen.
Die nächste Station unserer Reise war sicherlich die emotional forderndste. Auf der Shura-Militärbasis im Süden des Landes wurden die Leichenteile von hunderten ermordeten Israelis zusammengetragen. In Containern werden noch immer nicht identifizierte Leichen und Leichenteile aufbewahrt. Betreut von einem Militärrabbiner versuchte eine eigene Einheit des Militärs, anhand von DNA-Proben die Identität der Toten festzustellen. Es sind fürchterliche Bilder, die wir zu Gesicht bekamen. Verkohlte Körper. Zwei wie aneinandergeschweißte Leichen: Eine Frau, die an ihr Kind gefesselt und bei lebendigem Leib angezündet wurde. Schädel, die so zertrümmert waren, dass nicht einmal mehr mithilfe der Zähne eine Identifizierung möglich ist. Immer noch fehlen mir die Worte, um zu beschreiben, was wir dort gesehen und gehört haben. Der Leichengeruch war unerträglich.
Ein Besuch im besonders schwer getroffenen Kibbuz Kfar Aza, wo auch ein Mitglied meiner erweiterten Familie von Terroristen erschossen worden war, musste kurzfristig abgesagt werden, da ein weiterer Angriff der Hamas befürchtet wurde. Wir fuhren an den Ort zwischen den Kibbuzim Be’eri und Reim nahe der Grenze zu Gaza, wo bei dem Supernova-Festival 260 zumeist junge Menschen erschossen worden waren. Während unseres Besuchs schlug eine Rakete aus dem Gazastreifen auf einem Feld in der Nähe ein. Wir trugen kugelsichere Schutzwesten und Helme und gelangten unversehrt in den Kibbuz Be’eri. Ich glaube, wir waren wahrscheinlich die erste oder eine der ersten zivilen Gruppen, die hingekommen sind, denn die Aufräumarbeiten hatten gerade erst begonnen. Es war alles so schrecklich! In dieser kleinen, idyllischen Siedlung, aufgebaut in der zionistisch-sozialistischen Kibbuztradition mit netten, gepflegten Häuschen und kleinen Gärten, war die Zerstörung umso brutaler zu spüren. Einige Häuser waren komplett abgebrannt, andere lagen in Trümmern. Und wieder überall Leichengeruch. Ein Kindergarten, völlig durchlöchert, Blutlachen auf dem Boden. In der nahe gelegenen Stadt Sderot, die seit Jahren immer wieder aus dem Gazastreifen beschossen wird, wurden uns einige Videos gezeigt, die von der Hamas aufgenommen worden waren. Bilder des Grauens. Unbeschreiblich. Unvergesslich.
Am nächsten Tag besuchten wir nach Briefings in der Knesset und im Verteidigungsministerium verwundete Soldaten in einem Spital. Zwei Männer aus unterschiedlichen Orten in Zentralisrael, einer 23, der andere 40 Jahre alt, hatten im Radio die Berichte über den Hamas-Überfall gehört und sich sofort mit ihren Waffen in die überfallenen Kibbuzim aufgemacht, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu verteidigen – mit allen Kräften und unter unglaublichen Bedingungen. Sie erzählten uns, wie erstaunt sie über die technologisch hochmodernen Waffen der Hamas-Schlächter waren. Während des Besuchs im Spital wurden uns auch die Notabteilungen gezeigt. Dorthin werden alle Patienten verlegt, wenn es Bombenangriffe gibt. Tatsächlich fand auch zum Zeitpunkt, als wir dieses unterirdische Notspital besichtigten, ein Raketenalarm statt.
Besonders berührend war das Treffen mit Eyal Waldman, dem Gründer einer weltweit erfolgreichen High-Tech-Firma. Seine Tochter Danielle und ihr Partner waren bei dem Musikfestival ermordet worden. Und ein Mitarbeiter der Palestinian Media Watch zeigte uns, wie die Indoktrination gegen Jüdinnen und Juden in palästinensischen Schulen unterrichtet wird.
Während des gesamten Besuchs sahen wir das Militär in höchster Alarmbereitschaft, immer wieder hörten wir Detonationen, fühlten uns aber dennoch sicher. Die Frage nach den Versäumnissen der Politik oder des Mililtärs ist wie der berühmte „elephant in the room“: Jeder sieht ihn, aber keiner will darüber sprechen. Aber, davon bin nicht nur ich überzeugt, das wird einer langwierigen Aufarbeitung bedürfen. Derzeit schiebt man diese Frage jedoch noch beiseite, denn nun geht es in erster Linie um die Sicherheit Israels. Es ist berührend, wie alle zusammenhalten, die Einheit, die im Land herrscht, ist deutlich zu spüren. Die Menschen versuchen zu helfen, wo es geht, sie bringen den Soldaten Essen, warme Unterwäsche und Akkus, viele Menschen spenden Blut. Mein Neffe, er ist gerade 50 Jahre alt geworden und wird daher nicht eingezogen, fährt mehrmals täglich mit Hilfslieferungen; und die Frau meines Cousins half mit, Geiseln zu identifizieren, mit den Familien Verbindung zu halten und damit sozusagen ein Bindeglied zwischen Familien und Militär beziehungsweise Regierung zu bilden.
In Jerusalem wurden wir in der Knesset, dem israelischen Parlament, mit großer Dankbarkeit und Wertschätzung für den Solidaritätsbesuch begrüßt. Zu diesem Zeitpunkt gab es ja kaum Flugverkehr mit Israel und immer Menschen, die ausreisen wollten. Daher wurde umso mehr hervorgehoben, dass wir als eine der ersten Solidaritätsdelegationen angereist waren. Auch der aktuelle und der frühere Parlamentspräsident haben sich für uns Zeit genommen. Immer wieder wurde betont, wie dankbar Israel für die Solidarität Österreichs sei, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Belgien oder Irland.
Als sich herauskristallisierte, dass Bundeskanzler Karl Nehammer eine Solidaritätsreise nach Israel unternehmen würde, verlängerte ich meinen Aufenthalt. Mit dem Bundeskanzler fanden dann auch die Gespräche mit der Notregierung – allen voran Benjamin Netanjahu – im Verteidigungsministerium in Tel Aviv statt, wo die Regierung derzeit ihren Sitz hat. Auch den israelischen Staatspräsident Jitzchak Herzog trafen wir zu Gesprächen. Es ging vor allem darum, dass Israel einem Waffenstillstand keinesfalls zustimmen könne, um der Hamas keine Gelegenheit zur neuerlichen Aufrüstung zu geben. Es solle aber immer wieder Feuerpausen zur Versorgung der Zivilisten geben. Ein wichtiges Thema in unseren Gesprächen war auch der Umgang mit der Propaganda der Hamas in den sozialen Medien, die ungebremst läuft und der eigentlich nichts entgegengesetzt wird. Denn von israelischer Seite scheut man sich, die Bilder von den Gräueltaten zu veröffentlichen, auch aus Respekt gegenüber den Ermordeten und deren Familien. Uns hat man einen kurzen Zusammenschnitt gezeigt, ohne dass man die Personen erkennt. Grauenhafte Bilder, die mich nicht mehr loslassen.
Es macht einen Riesenunterschied, ob man dieses Grauen sieht, riecht und die Stimmung mitbekommt. Für die Israelis ist es gerade jetzt besonders wertvoll, dass Menschen aus dem Ausland kommen, dass man solidarisch ist, dass man Beistand leistet. Ich werde jetzt immer wieder gefragt, auch von österreichischen Medien, ob ich eine Rachesucht bei den Israelis orte. Dieses Gefühl habe ich überhaupt nicht. Das Wichtigste ist ein starker Zusammenhalt. Man will einfach die Gewissheit herstellen, dass Israel eine Zukunft hat.