Der Bestseller „Das Drama des begabten Kindes“ machte Alice Miller 1979 schlagartig berühmt. Doch die liebevolle Erziehung, für die sie in ihren Büchern plädierte, ließ die Psychoanalytikerin ihrem eigenen Sohn nicht angedeihen, wie der Dokumentarfilm „Who’s afraid of Alice Miller“ bitter feststellt.
Von Gabriele Flossmann
„Wir müssen erkennen, dass wir den Eltern, die uns misshandelt haben, keine Dankbarkeit schulden und schon gar keine Opfer. Diese brachten wir nur den Phantomen, den idealisierten Eltern, die ja gar nicht existierten. Weshalb fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern?“, schrieb Alice Miller 2004 in Die Revolte des Körpers.
Dieses Postulat scheint nun der Sohn der für ihre tabulosen Bücher bekannten Psychoanalytikerin in die Tat – sprich: in einen Film – umgesetzt zu haben. In ihren Büchern warb Alice Miller für eine liebevolle Erziehung, ihrem eigenen Sohn gegenüber war sie offenbar kalt und gefühllos. Das jedenfalls geht aus dem Dokumentarfilm des Schweizer Filmemachers Daniel Howald hervor, der in Who’s afraid of Alice Miller zeigt, wie sich Martin Miller mit den eigenen, aber auch den Traumata seiner Mutter auseinandersetzt.
Der Bestseller Das Drama des begabten Kindes machte Alice Miller 1979 zum Star. Ihre Darstellung der Folgen schlimmer Kindheitserlebnisse ließ die Autorin über Jahrzehnte als Lichtgestalt für den Kampf um den Schutz und die Rechte von Kindern erscheinen. Umso größer war das Erstaunen, als sich drei Jahre nach ihrem Tod der Sohn Martin Miller mit einer ganz anderen Darstellung seiner Mutter 2013 erstmals zu Wort meldete. In seinem Buch Das wahre Drama des begabten Kindes warf der Sohn – inzwischen selbst als Psychotherapeut – Alice Miller vor, bei der Erziehung völlig versagt zu haben. Seine schlimme Kindheit ist nun auch Thema seines Films.
Aus der Suche nach der Wahrheit hinter dem öffentlichen Leben der Schweizer Psychologin Alice Miller ist ein verstörender und berührender Film über transgenerationale Traumabewältigung geworden. Daraus geht hervor, dass er so ziemlich alles versucht hat, um seiner Mutter emotional näher zu kommen. Erst nach dem Tod seiner berühmten Mutter fand Martin die Kraft, die Diskrepanz zwischen Millers Werk und ihrem Lebensalltag zu thematisieren und offen darüber zu sprechen. Als Psychoanalytikerin und als Mutter habe Alice gleichermaßen versagt.
Schon in seinem Buch stellte Martin Miller Vermutungen über dieses Versagen an und vermutete, dass seine Mutter an eigenen Traumata litt, die sie gerade gegenüber ihren nächsten Angehörigen so kalt werden ließen. Und er ging in seinem Buch wie jetzt auch im Film der gängigen Stammtischweisheit nach, wonach gerade die besten Therapeuten meist die schlechtesten Familienmenschen sind. Der fast 70-jährige Miller hat sich dafür mit dem Dokumentarfilmer Daniel Howald auf eine mehrjährige filmische Reise begeben, um sowohl den Wurzeln seiner Mutter als auch denen seines Vaters nachzuspüren.
Man merkt dem Film an, dass es ihm dabei vor allem darum ging, die Mutter posthum verstehen zu lernen und weniger darum, sie anzuklagen. Das psychologische Tohuwabohu, das in Who’s afraid of Alice Miller? herrscht, und der kämpferische Tonfall dieser filmischen Familienaufstellung assoziieren bewusst Parallelen zum Film Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, den Mike Nichols nach dem gleichnamigen Stück von Edward Albee mit dem damaligen Ehepaar Elisabeth Taylor und Richard Burton drehte. Die markanten Abweichungen von Martin Millers Buch werden in der Doku explizit ausformuliert. Anders als im Buch versichert Martin, dass Alice bei den täglichen Schlägen des Vaters nicht interveniert habe. Weder gegen verbale noch gegen physische Übergriffe.
Abgründige Szenen
Den Rahmen für die abgründigen Szenen einer Mutter-Sohn-Beziehung bildet ein investigatives Roadmovie, das auch in die USA führt. Dort nimmt Martin Miller Kontakt mit Irenka Taurek auf, der Cousine seiner Mutter, die mit Alice zusammen aufwuchs und ebenfalls als Therapeutin arbeitet. Begleitet von Irenka, reist er auch nach Warschau und Łódź, um Dokumente seiner Eltern aus der Zeit vor ihrer Ausreise aus Polen in die Schweiz 1946 zu suchen. Alice hatte als Jüdin mit gefälschten Papieren im Warschauer Untergrund überlebt. Nach ihrer Emigration in die Schweiz legte sie dort die Grundlagen für ihre Karriere als Analytikerin und Autorin.
Diese Reise bekommt durch den Versuch, die Rolle des Vaters als möglicher NS-Kollaborateur näher zu durchleuchten, eine ganz besondere politische Brisanz. Wie etwa dann, wenn sich die polnischen Behörden weigern, Andreas Millers Akte auszuhändigen. In solchen Momenten wird diese psychotherapeutische Reise zum verstörenden Beispiel dafür, auf welche Widerstände gerade jüdische Menschen stoßen, wenn sie versuchen, durch Wahrheitsfindung den Teufelskreis der generationenübergreifenden Weitergabe von Traumata zu durchbrechen. Sein Vater sei der „Erpresser“ seiner Mutter gewesen, die unter anderem Namen als Jüdin unter Deutschen in Warschau überlebt habe, erzählt Miller in der Doku über seine Mutter.
Rettende Verführung
Es habe damals viele Frauen gegeben, die ihr Leben gerettet hätten, indem sie Männer verführten. Der Vater habe Alice Miller und deren Schwester später mit zwei Stipendien zur Flucht in die Schweiz verholfen. Dort lebte sie dann bis zu ihrem Tod 2010.
Alice, deren Briefe von Katharina Thalbach aus dem Off gelesen werden, erkennt und versteht erst am Ende ihres Lebens ihre eigenen Verdrängungen, die undurchdringlichen Wände ihres seelischen Bunkers, das zu kaltem Eisen gewordene Schweigen. Spät – zu spät für den Sohn – erkennt sie die Tragik des Schicksals der zweiten Generation und damit ihres Sohnes Martin.
Wie viele Betroffene der zweiten Generation (er)kannte er zwar die Angst der Eltern, aber nicht die Gründe dafür, die Realität dahinter. Mit dieser Erkenntnis über die NS-Zeit und ihre Folgen reicht der Dokumentarfilm bis in die heutige Gegenwart. Er lässt erahnen, dass zahlreiche weitere Generationen durch die Kriege der letzten Jahrzehnte ganz ähnliche Schicksale erlitten haben, denen man diese Form der Traumabewältigung nur wünschen kann. Am Ende sehen wir Martin Miller mit Freunden um einen großen Tisch zusammensitzen. Es geht darum, die Wahrheit so akzeptieren, wie sie ist. Auch wenn sie oft nur die Spitze eines Eisbergs darstellt.
Persönlichkeitsveränderung
Viele Stars machten eine Persönlichkeitsveränderung durch, wenn sie berühmt würden, sagt Miller heute über seine Mutter. „Es hat zwei Alice Miller gegeben“, meint er. „Es hat die echte Alice Miller gegeben, die habe ich erlebt.“ Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen während der NS-Zeit sei sie zu einer gespaltenen Frau geworden. „Sie hat im Prinzip in ihren Büchern eine Alice Miller erfunden.“
Eine, die sie wohl in Wirklichkeit gerne gewesen wäre. Einige Aspekte der psychologischen Theorien seiner Mutter seien bis heute aktuell, sagt Miller. Das positive Denken und die Glückspsychologie feierten wieder eine Hochkonjunktur. Der Bestseller von Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes, ist jedenfalls bis heute populär – und wahr.
Kinostart: 22. 4. 2022