Seit über dreißig Jahren beobachtet und kommentiert Danny Leder das politische und soziale Zeitgeschehen in Frankreich. NU traf ihn zu einem Gespräch über seine Familien-Fluchtgeschichte, sein politisches Engagement im Post-68er-Wien und sein Leben in der Seine-Metropole.
VON STEFAN MAIER (TEXT UND FOTOS)
Wer Danny Leder zum ersten Mal begegnet, dem fallen als erstes seine rhetorische Verve, seine lebendige Gestik und sein wacher Blick auf. Der passionierte Anekdotenerzähler fühlt sich im Deutschen wie im Französischen gleichermaßen zu Hause, sein warmes, wienerisch koloriertes Timbre hat er beibehalten. Der Nestroy-affine „Autodidakt“ und „manische Krimileser“ berichtet seit bereits über dreißig Jahren aus Paris als Kurier-Korrespondent und Publizist für eine Vielzahl österreichischer und ausländischer Medien. Das Gefühl, nicht ganz dazu zu gehören, hat den in Mailand 1954 geborenen Leder seit seiner Namensgebung begleitet: seine Eltern gaben ihm einen amerikanischen Namen, der ein „geläufiger Name sowohl unter Juden in der Nachkriegszeit als auch unter Christen im Libanon war“. „Offenbar“ war es für seine Eltern „unmöglich“, ihm „im Nachkriegseuropa einen europäischen Namen zu geben, und schon gar keinen deutschen.“
Bewegte Familiengeschichte
Leder ist Angehöriger der „zweiten Generation, die von jenen großgezogen worden sind, die dem Inferno zufällig entrinnen konnten“. Seine Mutter irrte 1939, gerade einmal 16 Jahre alt, nach der Flucht aus Wien gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Bruder und ihrer Mutter durch Frankreich, wurde 1942 vor der Schweizer Grenze von der französischen Gendarmerie aufgegriffen und entging nur knapp der Verfolgung: Unter großem persönlichen Risiko verzichtete der zuständige Gendarm auf die Auslieferung an die NS-Besatzer und übergab die Flüchtlinge stattdessen einem jungen Richter und engagierten Katholiken, der ein Versteck in einem Kloster organisierte. Die Traumata der Flucht, des Exils und der Isolation haben Leders Mutter ihr Leben lang begleitet und geprägt. Als gebürtige Wienerin mit polnischen Wurzeln wollte sie nach Kriegsende „unbedingt wieder zurück nach Wien“, wo sie Leders Vater kennenlernte, der in Österreich als „Displaced Person“ gestrandet war. Leders Eltern waren ein ungleiches Paar, stark geprägt von einer „kulturellen Kluft“: Leders „gottgläubiger“ Vater, ein Landmensch mit Muttersprache Jiddisch, stammte aus dem großbäuerlichen Milieu einer kleinen Ortschaft in der Bukowina, wo seine Familie eine hauseigene Spiritusbrauerei hatte, und sprach ein „kreolisches Deutsch“. Das Judentum war für ihn eine „Form der nationalen Zugehörigkeit und nicht austauschbare Identität“. Demgegenüber ist seine Mutter, die weiterhin in Wien lebt, eine „entwurzelte Großstädterin mit intellektuellem Touch“, die sich für Theater und Literatur interessiert. Seine Kindergarten- und Volksschulzeit in Wien absolvierte Leder, der mit seiner Familie unweit vom Naschmarkt wohnte, in der französischen Schule. Nebst der Frankophilie seiner Mutter hofften seine Eltern, dass ein jüdisches Kind im Wien der Nachkriegszeit dort eher vor Anfeindungen geschützt sein würde. Das „aufsässige“ Einzelkind Leder hatte in dem „sehr leistungsorientierten“ Umfeld Anpassungsschwierigkeiten. In der Volksschule wurde der „Rebell auf Abwegen“ dann bald zum roten Tuch für seine Lehrer. Mit elf Jahren hatte Leder eine „frühzionistische Phase“: Ein mit einem Freund entwickelter Fluchtplan über Jugoslawien nach Israel scheiterte in letzter Minute, eine aufmerksame Nachbarin hatte Verdacht geschöpft und die Eltern noch rechtzeitig alarmiert.
Politisches Engagement
Nach einem Schulwechsel in das „biedere“ Bundesgymnasium in der Amerlinggasse im sechsten Bezirk und „fasziniert von Mai 68, Jugendrevolte und Demonstrationen“ schärfte Leder als Klassensprecher sein linkspolitisches Engagement, sehr zum Missfallen seines besorgten Vaters, der den „Marxismus gehasst hat“.
Während seine Mitschüler „schmusten und sich einrauchten”, verfolgte Leder bereits als 14-Jähriger im „Verband Sozialistischer Mittelschüler“ (VSM) die „Utopie eines emanzipatorischen Sozialismus”. 1970 kam es zum Eklat, Leder verfasste Flugblätter gegen eine Disziplinarkonferenz im Zusammenhang mit einem Rauchkabinett im „Speckkammerl“ und für die Abhaltung eines Proteststreiks, der Schulunterricht wurde zwei Tage unterbrochen. Trotz seiner Suspendierung erschien Leder dennoch im Unterricht, schrieb an gegen den „jahrzehntelangen Untertanengeist“ und kritisierte den Direktor „als mehr oder weniger willenloses Vollzugsorgan gesellschaftlicher Repression“. Die Schuldirektion forderte Leder in der Semesterhälfte zum Verlassen der Schule auf; einvernehmlich bekam er aber doch noch ein „Abgangszeugnis“, das ihm neben einer befriedigenden Betragensnote ein Sehr gut in Deutsch bescheinigte; Der Versuch eines Wechsels in eine andere Wiener Mittelschule scheiterte. Es folgten berufliche Stationen als Briefträger, angelernter Offset-Drucker und Gerichtsdiener am Wiener Straflandesgericht. Daneben engagierte sich Leder nach der Trennung vom VSM zunächst als Verfasser der Rotpress und Strategie- Entwickler im Verband sozialistischer Studenten (VSStÖ). Für den VSStÖ gewann er damals Josef Cap, der ihm anvertraute, eines Tages Bundeskanzler werden zu wollen, und mit dem Leder im Wien der 70er-Jahre eine intensive Freundschaft verband. Ein „politisches Schlüsselerlebnis“ hatte Leder während eines Camping- Aufenthalts auf der Insel Elba. Er lernte einen italienischen Bademeister und „Lotta Continua“-Aktivisten kennen, mit dem er in einem rasend schnellen Mini-Fiat von Arbeitern besetzte Fabriken besichtigte. Nach Wien zurückgekehrt, verließ Leder den VSStÖ als Mitverfasser einer inzwischen prominenten offiziellen Austrittserklärung. Eine neue politische und publizistische Heimat fand Leder in der „intellektuellen und kulturell offenen“ „Gruppe Revolutionäre Marxisten“ (GRM), wo er zum „einzigen hauptamtlichen Funktionär“ und Chefredakteur der Rotfront, die er persönlich am Schottentor verteilte, avancierte. Während dieser Zeit wohnte er in der „wichtigsten Wohngemeinschaft und Kernzelle der GRM“ in der Josefstädter Fuhrmannsgasse. Im Gegensatz zur maoistischen Marxistisch-Leninistischen Studentenorganisation (MLS), die sich vor allem auf Nachwuchs aus „jüdischen KPÖ-Familien und Tiroler ÖVP-Bauern“ stützte, vereinte die trotzkistische GRM vorwiegend Kinder aus „SPÖ-Milieus und Arbeiterfamilien“. Gleichzeitig arbeitete Leder für die Wiener Presse, für die er als Probeartikel eine Reportage über die geplante Entfernung des Naschmarkts im Zuge eines Schnellstraßenbaus vorlegte; 1975/1976 verfasste er als Redakteur rund hundert Artikel im Chronik- Ressort. Als ihn Redaktionskollegen bei Demonstrationen in der ersten Reihe entdeckten, verlor er jedoch seine Anstellung beim konservativen Traditionsblatt.
Den „Bruch mit dem Linksradikalismus“ begründet Leder mit dem Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha, der Problematik der „Boat People“, „die eine starke Parallele zu den Juden, die vor der NS-Verfolgung flüchteten und nirgends aufgenommen wurden, aufwiesen“, und der Einsicht in die begrenzte „Planbarkeit von Wirtschaft und Leben“. Den Austritt aus dem GRM bei einer „Zellensitzung“ 1979 erlebte Leder damals als „notwendigen persönlichen Befreiungsschlag“, der ihn gleichzeitig in eine „existenzielle Krise ohne materiellen oder ideellen Rückhalt“ stürzte.
Leben in Frankreich
Vor diesem Hintergrund und aus privaten Gründen entschloss er sich Anfang der 80er-Jahre zur Abreise nach Frankreich, wo Leder, der eigentlich nie Journalist werden wollte, trotz mancher Anfangsschwierigkeiten bald als Korrespondent für das Profil und den Kurier Fuß fasste. Es folgten „interessante und lange Lehrjahre“. Mit seinen Interviews gelingen Leder regelmäßig journalistische Coups, auch in französischen Fernsehsendungen ist Danny Leder immer wieder als Kommentator eingeladen. Zuletzt sorgte sein Interview mit Marine Le Pen, der Chefin des Front National, in der Normandie für Aufsehen, einschließlich innenpolitischer Nachwehen im österreichischen Europa- Wahlkampf. Eine Geschichte über einen Überläufer aus dem rumänischen Geheimdienst und dessen Aktivitäten in Wien sorgte für breite mediale Resonanz rund um Wien als Spionage-Schauplatz. Politischen Spürsinn bewies Leder 2002, als er als einer von nur wenigen internationalen Beobachtern den Vormarsch des FN prognostizierte, den Jean-Marie Le Pen dann tatsächlich in die Stichwahl um das französische Präsidentenamt gegen Jacques Chirac führte. Auch für Zeitgeist-Fragen hat Leder ein feines Sensorium: Das in Paris omnipräsente Attribut „bobos“ (bourgeois-bohèmes) dechiffrierte Danny Leder bereits in seiner Entstehungsphase für die österreichische Leserschaft. Die Bezeichnung ist aus Leders Sicht heute inzwischen zu einem „Kampfbegriff gegen die Linke“ geworden, mit dem „eine aufgeklärte und kultivierte Mittelschicht, die in Österreich Parallelen zur jüdischen Mittelschicht in der Zwischenkriegszeit hat und heute das Rückgrat der politischen Anständigkeit bildet“, desavouiert werden soll. Trotz seines schillernden zwölfjährigen politischen Engagements in der Wiener linken Szene blieb Leder „im Innersten immer sehr gespalten“. Aus heutiger Sicht hat er einen selbstkritischen Blick auf seinen politischen Lebensweg, wobei er den „Wunsch nach Zugehörigkeit, postpubertären Enthusiasmus und Exaltation“ als wichtige Impulse sieht. Heute hält der „moderate Sozialdemokrat“ Leder „Distanz zu politischen Bewegungen“, Lust auf erneuten politischen Aktivismus hat er allenfalls „nur mehr für eine Viertelstunde“.
In den 50er- und 60er-Jahren wurden die jüdischen Gemeinden in Frankreich vor allem durch die Migration aus dem Maghreb im Zusammenhang mit der Entkolonisierung „revitalisiert und dynamisiert“. Damals hielten „augenzwinkernde Religiosität und lebenslustige nordafrikanisch- jüdische Folklore“ mit Musik, Bauchtanz und Couscous-Lokalen, in denen noch bis in die 80er-Jahre Juden und Muslime Seite an Seite ihr „nostalgisches Heimweh pflegten“, Einzug. Inzwischen sei, so Leder, die jüdisch-maghrebinische Präsenz im Abklingen, Einwanderer aus Südostasien, vor allem aus China, dominieren inzwischen das vormals jüdischtunesisch geprägte Belleville-Viertel im Pariser Nordosten. „Die Juden aus Nordafrika haben, im Zeitraffer, dieselben Etappen wie die jüdischen Familien aus Osteuropa durchschritten: urbane Streuung und schrittweise Auflösung in einem breiten Mittelstandsmilieu.“ Zudem gewinnen, so Leder, die aus der Ukraine stammenden, „neopietistischen“ Lubawitscher Chassidim an Bedeutung und prägen zunehmend das Erscheinungsbild der jüdischen Gemeinden in Paris.
Frankreich zählt mit rund 500.000 Juden und sechs Millionen Moslems die größten jüdischen und muslimischen Bevölkerungsgruppen Europas. Die Mehrheit stammt aus Frankreichs Ex-Kolonien in Nordafrika und lebt oft in denselben Vierteln, eine „gefährliche Nachbarschaft“. „Noch nie seit Ende der deutschen Besatzung war die physische Bedrohungslage der Juden so real wie in den letzten Jahren.“ Vor allem die Perspektivenlosigkeit von Migrantenfamilien aus Nord- und Schwarzafrika in städtischen Randvierteln, die Suche nach einem Sündenbock sowie die Resonanz des Nahostkonflikts bereite, so Leder, den Boden für Jugendkriminalität und antijüdische Übergriffe. Anfeindungen, Vandalismus und Attacken haben laut Leder inzwischen zum Auszug vieler Juden aus den Vorstädten beigetragen. Demgegenüber könne aber „von einer relevanten Zunahme antijüdischer Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung Frankreichs kein Rede sein“. Ein Indiz dafür sieht Leder auch darin, dass „niemand in Frankreich die Affäre Strauss-Kahn antisemitisch ausgeschlachtet hat“. Das Verhältnis des „überzeugten Atheisten“ zum Judentum ist „kompliziert” und gekennzeichnet von einer „Mischung aus Schuldgefühl, Verpflichtung, Erfahrung und Narzissmus“. Leder erkennt sich am besten in der von Bruno Kreisky verwendeten Definition der „jüdischen Schicksalsgemeinschaft“ wieder.
Paris ist für Leder „keine Traumstadt“, an der dichtestbesiedelten Hauptstadt Europas vermisst Leder, der seit rund dreißig Jahren im volkstümlichen Pariser Nordosten lebt und arbeitet, die Nähe zu Grün- und Naturgebieten. An Frankreich schätzt er vor allem die „tollste Filmproduktion der Welt“. Die Rettung seiner Mutter und die „Nichtteilnahme eines beträchtlichen Teils der französischen Bevölkerung an der Judenverfolgung, eine Besonderheit in Europa und Kontrastprogramm zur Entwicklung in Österreich“ prägen Leders Verhältnis zu Frankreich. Er fühlt sich dem Land durch eine bleibende „Bringschuld“ zur Anerkennung verpflichtet. Gleichzeitig hegt er ein natürliches „Misstrauen gegenüber Liebeserklärungen für Kollektive, Länder und Sprachen“. Zu Österreich, dem „Kernland des Holocaust”, hat Leder, der lange um eine „symbolische Richtigstellung der Vergangenheit“ gekämpft hat, inzwischen ein „weniger verkrampftes Verhältnis“. Anlass zu Hoffnung gibt für Leder die Bildung einer neuen Mittelschicht mit Entscheidungsträgern vor allem im Bildungswesen und in den Medien, der sich „antinazistische Aufarbeitung, der Bruch historischer Tabus und mediale Sensibilität gegenüber Antisemitismus“ verdanken. Diese Entwicklung „könnte allerdings erneut ins Wanken geraten“.
„Persönlich erfüllt, frei und zuversichtlich“ fühlt sich Leder erst seit rund zehn Jahren, eine Entwicklung, die er vor allem seiner Frau Stephanie, einer sozial engagierten und charmanten Pariserin, verdankt. Eine weitere entscheidende Rolle spielt auch der Zugewinn an redaktioneller Unabhängigkeit. In seiner Freizeit lernt Leder Arabisch, frönt dem „fanatischen Tischtennisspielen“ in zwei Pariser Vereinen und beschäftigt sich mit jüdischer Sozial- und Ideengeschichte. Ganz heimisch ist Leder dennoch auch in Paris noch nicht: „Die Foie gras schmeckt für mich wie eine Avocado.“