Die Anhänger des Fußballklubs Tottenham Hotspurs haben sich selbst das jüdische Erbe des Vereins zum Identifikationsmerkmal gewählt und es gilt noch heute.
Von Axel Reiserer, London
Als der Journalist Anthony Glavane in den 1960er-Jahren im nordenglischen Leeds Schüler an der Selig Brodetsky Jewish Day School war, platzte Schulleiter Abrahamson eines Tages der Kragen: Nachmittag für Nachmittag spielten die Buben im Schulhof Fußball: „Nachdem er unseren Fußball kassierte hatte, hielt er uns einen halbstündigen Vortrag, dass die Juden das Volk des Buches seien, nicht des Balls.“ Am nächsten Tag spielten die Buben mit einem Tennisball und als der konfisziert wurde, stiegen sie auf einen Apfelputz um. Das ging so weiter bis Abrahamson erneut die Buben zu sich befahl und ihnen das von ihm solches bezeichnete „Elfte Gebot“ verkündete, das da lautete: „Fußball ist nichts für einen jüdischen Buben.“
Die Worte des Schuldirektors blieben ebenso ungehört wie die ernsten Warnungen religiöser Autoritäten an die jüdische Gemeinde, die sich auf Rabbi Jakob ben Ascher beriefen: „Es ist verboten, am Sabbath und an den Feiertagen mit dem Ball zu spielen.“ Ebenso problematisch war auch der Besuch von Fußballspielen, ist doch strenggläubigen Juden die Benützung von Autos am Sabbath verboten.
Doch der Faszination des Fußballspiels konnten selbst diese Verbote nicht viel anhaben, vielmehr regten sie zu einer kreativen Auslegung an. Anthony Gilbert, der Kantor an der Etz Chaim Synagoge wurde, erinnert sich: „Wir gingen zum Unterricht, kamen nach Hause, aßen eine gute Mahlzeit und dann um Punkt 3.00 Uhr war für uns der Sabbath zu Ende, denn da war Matchanpfiff.“
Auf ähnlich pragmatische Weise wurden viele Tausende Londoner Juden Fans des FC Tottenham Hotspur. Ende des 19. Jahrhunderts flüchteten hunderttausende Juden aus Angst vor Pogromen und Verfolgung aus dem zaristischen Russland und Osteuropa. Die meisten wollten nach Amerika, aber allein in London ließen sich rund 120.000 Juden nieder, vorwiegend im Osten der Stadt. Von hier war das Stadion des 1892 gegründeten Vereins an der White Hart Lane schon damals mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen.
Zwar wurde damit das rabbinische Gebot eingehalten, doch gleichzeitig diente die Begeisterung für den Fußball nach Ansicht der Historikerin Joanne Rosenthal noch weiteren Zwecken: „Fußball bot Juden ein Mittel zur Integration und die Gelegenheit, ethnische oder religiöse Trennungen durch Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft hinter sich zu lassen.“
Gehirnschmalz oder Muckis?
Für viele arme Juden war der Fußball eine Möglichkeit, in der neuen Gesellschaft Fuß zu fassen. Einige versuchten, sich darin zu behaupten, wie etwa Louis Bookman, der als erster Jude überhaupt Spieler in einem Verein der ersten englischen Liga wurde. Der „yiddishe Shtarker“ wurde zum Gegenentwurf zu dem Klischee vom jüdischen Intellektuellen. „Brain or brawn“ – Gehirnschmalz oder Muckis – war die Frage.
Die große Mehrheit hingegen sah, wie von Rosenthal beschrieben, den Fußball als eine Gelegenheit der Anpassung an ihre neue Gesellschaft, eine Position, die von den jüdischen Interessensverbänden der damaligen Zeit stark gefördert wurde. Der Historiker David Dee spricht vom „Ausbügeln des Ghettos“ und dem Bemühen der „Anglikanisierung“: „Fußball wurde zu einem Mittel für die Juden, wie die Nichtgläubigen zu denken, handeln und auszusehen.“
Am Höhepunkt der jüdischen Identifikation mit Tottenham in den 1930er- Jahren waren bis zu ein Drittel der Besucher der Heimspiele – das waren damals mehr als 10.000 Fans – Juden. Als 1935 bei einem Gastspiel Hitler- Deutschlands an der White Hart Lane die Hakenkreuz-Fahnen gehisst wurden, warnte der Jewish Chronicle im Namen der jüdischen Gemeindeführung davor, „Proteste und jede Art von Unruhe wie die Pest zu meiden. Gewalt und Unordnung würde nur den Nazis in die Hände spielen.“
Das Unwesen der britischen Faschisten unter Max Mosley, die damals mit Schwarzhemden und antisemitischen Parolen durch das East End zogen, führte dann zu einem Umdenken in der Gemeinde. Die Mehrheit der Juden strebte danach, so rasch wie möglich die Armengegend des East End zu verlassen. Unter jenen, die blieben, wuchs die Entschlossenheit zum Widerstand, oft auch unter dem Eindruck der neuen Flüchtlinge vor den Nazis. Ein junger Mann, der nach einer Niederlage von Tottenham in eine Rauferei verstrickt wurde, sagte: „Ich habe so viel verloren, ich kann nicht weiter verlieren.“
Der Fußball spielte auch hier einmal mehr die Rolle eines gesellschaftlichen Seismografen. Mit der Abwanderung aus dem East End und dem Aufstieg in die Mittelklasse transferierten viele jüdische Fans ihre Sympathien auf den Nordlondoner Arsenal FC, der auch der Lieblingsverein der Hitler- Flüchtlinge wurde: „Es war die einzige Mannschaft, die wir kannten“, erinnert sich der Verleger Ernest Hecht, der 1939 mit dem Kindertransport aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien kam. „Wenn du ein Fremder in einem fremden Land bist, musst du dich an etwas festklammern und jemanden unterstützen.“
Jüdische Eigentümer
Anders als in Mitteleuropa, wo Fußball in der Zwischenkriegszeit Literaten von Weltgeltung um den Schlaf brachte, war das Spiel in England bis in die späten 1980er-Jahre eine Domäne der Unterschicht. Erst mit der Einführung der Premier League 1992 erfolgten die totale Kommerzialisierung des Sports und die Neuausrichtung des Fußballs als sozialverträgliche Familienunterhaltung für die finanzstarke Mittelklasse.
Tottenham machte diesen Trend wie jeder andere Spitzenverein mit. Zwar waren die jüdischen Anhänger längst aus dem East End weggezogen, aber die Verbindung blieb in zweifacher Hinsicht bestehen. Seit der Übernahme durch Irving Scholar und Paul Bobroff in den 1980er-Jahren und der Modernisierung und Neuausrichtung hatte der Verein eine Serie jüdischer Eigentümer. Auf Scholar und Bobroff folgte 1992 der schillernde Unternehmer Alan Sugar, ein weiterer Self-Made- Multimillionär aus dem Londoner East End. Heute gehört der Verein dem jüdischen Milliardär Joe Lewis und wird gemanagt von Daniel Levy.
Zum zweiten hat Tottenham zwar eine jüdische Vereinsführung jedoch keine (bzw. nicht in signifikantem Ausmaß) jüdischen Fans mehr, aber die Anhänger des Vereins haben sich selbst das jüdische Erbe des Vereins zum Identifikationsmerkmal gewählt. Sie bezeichnen sich als „Yids“ (das alte jiddische Wort war in den 1930er-Jahren der Schlachtruf von Mosleys Faschisten), „Yids Army“ oder bejubeln ihre Lieblinge mit dem Wort „Yiddo“. Im Stadion wird regelmäßig die israelische Fahne gehisst und „Goyim“, die man eher anders einordnen würde, tragen den Davidstern als Auszeichnung. So weit, so unüblich.
Seit die „Society of Black Lawyers“ aber mit einer Klage wegen „rassistischer Slogans und Aufruf zur Verhetzung“ drohte, ist eine heftige Debatte entbrannt, die der Vereinsführung von Tottenham offensichtlich schrecklich peinlich ist. Nach mehreren Appellen an die Fans, dass jede Form des Rassismus dem Verein schade und streng verfolgt werde, wurden die Anhänger zuletzt zu einer Mitgliederbefragung über das Y-Wort gebeten. Dummerweise dürfte nicht das gewünschte Ergebnis herausgekommen sein, denn die Vereinsführung hält das Resultat seit Ende Februar unter Verschluss. Interviews werden auch auf hartnäckiges Nachfragen nicht gewährt.
Wie sich die 11.500 Fans, die an der Befragung teilgenommen haben, geäußert haben dürften, lässt sich aber daraus ablesen, dass der jüngste Schlachtgesang lautet: „Wir singen, was wir wollen.“ Premierminister David Cameron hat bereits sein Verständnis für die Fans geäußert: „Ich denke, man muss berücksichtigen, in welcher Absicht dieses Parolen gerufen werden, und dass sie eine Portion Ironie enthalten.“ Spurs-Fan Ivan Cohen: „Wir haben eine Beschimpfung in eine Ehrenbezeichnung umgewandelt.“ Genau gegenteiliger Ansicht ist der jüdische Schauspieler und Filmemacher Daniel Baddiel, der meint: „Es gibt heute nur mehr 250.000 Juden in Großbritannien, und von allen Tottenham-Fans sind vielleicht drei bis vier Prozent Juden. Das bedeutet, dass weit mehr als 90 Prozent jener, die ‚Yid-Army‘ schreien, gar keine Juden sind. Das kann nicht richtig sein.“ Mehr aber noch, warnt Baddiel aus seiner Perspektive eines Chelsea-Fans: „Mit diesem Schlachtruf legitimieren sie die schlimmsten antisemitischen Parolen anderer Fans.“
Besonders häufig singen die Chelsea- Fans: „Hitler marschiert wieder, die Juden sind auf dem Weg nach Auschwitz“, ergänzt durch ein zischendes Geräusch, das ausströmendes Gas nachmachen soll. Eigentümer von Chelsea ist übrigens der russische Jude Roman Abramowitsch, der bisher mehr als eine Milliarde Pfund in den Verein gesteckt und damit aus 50 Jahren Erfolglosigkeit geholt hat.
Tottenhams Ex-Eigentümer Alan Sugar, etwas ärmer als Abramowitsch, aber dafür umso länger im Lande: „Der Jude wird in England immer als ein Fagin gesehen, und du kannst das den Leuten nicht aus dem Kopf schlagen. Es schwingt immer unterschwellig mit – dass die Juden ein bisschen zu schlau sind, ein bisschen zu schnell und irgendwie nicht vertrauenswürdig.“