Der Chassidismus spielt mit seinen spirituellen Praktiken seit Jahrhunderten eine bedeutende Rolle im Judentum. Die einzelnen Gemeinschaften eint eine überaus ausgeprägte Hingabe für die Wahrung ihrer Traditionen und eines tiefen Glaubens.
Von Mark E. Napadenski und Nathan Spasić
Gegründet wurde der Chassidismus von Rabbi Israel ben Elieser in Podolien – genannt „Baal Shem Tov“ – in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im heutigen ukrainisch-moldawischen Grenzgebiet. Ein zentraler Grundsatz seiner Lehre ist die direkte Verbindung mit dem Göttlichen, die, so Baal Shem Tov, mit jeder menschlichen Aktivität verwoben sei. Die Immanenz Gottes im Universum und die Notwendigkeit, jederzeit mit dem Allmächtigen verbunden, ja eins zu sein, ist der zentrale Faktor. Weiters besonders wichtig sind das Gebet, die hingebungsvolle religiöse Praxis und die spirituelle Dimension der Körperlichkeit und weltlicher Handlungen. Dazu kommt noch die hohe mystische Bedeutung hebräischer Buchstaben und Wörter. Die Innovation? „Anbeter zu ermutigen, ihren ablenkenden Gedanken zu ihren Wurzeln im Göttlichen zu folgen“. Die Bewegung zog eine engagierte Anhängerschaft an und legte den Grundstein für den Chassidismus.
Von Rudnja nach Brooklyn
1775 gründete Rabbi Schneur Zalman von Liadi die Chabad-Bewegung in Lubawitsch, einem Ortsteil der russischen Kleinstadt Rudnja an der Grenze zum heutigen Weißrussland. Es ist eine der bekanntesten chassidischen Gruppen, vor allem für ihre missionarischen und bildungsorientierten Initiativen innerhalb des Judentums. Organisiert als Dynastie hat sich die Chabad-Bewegung weltweit verbreitet und lebhafte Gemeinschaften etabliert. Anhänger nehmen an verschiedenen Ritualen teil, dazu zählen tägliche Gebetsdienste, Thora-Studien, Freundlichkeitsgesten – sogenannte „Mitzwen“ – und die Einhaltung jüdischer Feiertage. Bemerkenswerte Praktiken sind das öffentliche Anzünden der Menora während Chanukka, der Brauch, eine Wohltätigkeitskasse (Pushke) in den Häusern aufzustellen, sowie die Verbreitung jüdischen Wissens durch Bildungsprogramme.
Rabbi Menachem Mendel Schneerson, bekannt als der siebte Rebbe, war innerhalb des Judentums eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Als Anführer der Chabad-Lubawitsch-Bewegung verwandelte er eine isolierte chassidische Gruppe, die durch das anti-religiöse Regime in der Sowjetunion beinahe ihr Ende fand, in eine der einflussreichsten Bewegungen im religiösen Judentum. Schneersons veröffentlichte Lehren füllen mehr als 400 Bände mit Beiträgen zur jüdischen Kontinuität, zum religiösen Denken sowie Kommentaren zur traditionellen Thora-Forschung. Er gilt als auch als Pionier der jüdischen Öffentlichkeitsarbeit. Einige seiner Anhänger glaubten sogar, dass er der Messias sei und lösten dadurch eine Kontroverse innerhalb des Judentums aus. Der Rebbe hinterließ ein Erbe von über 5.000 Bildungseinrichtungen, sozialen Zentren, Kindergärten, Schulen, Drogenentzugskliniken, Pflegeheimen für Behinderte und Synagogen in mehr als tausend Städten weltweit. Heute umfasst die Bewegung laut Schätzungen knapp 95.000 Mitglieder und hat ihren Sitz in Crown Heights, Brooklyn.
Von Satu Mare nach Kiryas Joel
Die Satmar-Bewegung, deren Name sich von der rumänischen Stadt Satu Mare ableitet, hat ihre Wurzeln im frühen 20. Jahrhundert. Rabbi Joel Teitelbaum, bekannt als Satmar-Rebbe, war geistlicher Führer der Gemeinschaft. Auf der Flucht vor der Verfolgung wurde sein Zug in das KZ Bergen-Belsen umgeleitet, konnte aber dann doch noch in die Schweiz gerettet werden. Rabbi Joel hatte in erster Ehe drei Töchter. Zwei verstarben noch vor der Schoa, eine Tochter starb in den 1950er Jahren. Im Jahr 1946 übersiedelte Rabbi Joel nach New York, wo er mit dem Wiederaufbau der Satmar-Bewegung begann und ihr zu einer schnell wachsenden Gruppierung innerhalb des Chassidismus verhalf. Er hinterließ keine Nachkommen. Sein Neffe, Rabbi Moshe Teitelbaum, war 1944 gemeinsam mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert worden, wo seine drei Kinder und seine erste Frau ermordet wurden. Er erlebte 1945 die Befreiung im KZ Theresienstadt und emigrierte ebenfalls in die USA. Im Jahr 1979 starb Rabbi Joel, sein Nachfolger wurde Rabbi Moshe. Seit dessen Tod im Jahr 2006 teilen sich seine beiden Söhne, Rabbi Aaron und Rabbi Salman Leib, die Führung der Satmarer Community, nicht immer in bestem Einvernehmen. Heute sind die beiden Gemeinden vor allem räumlich getrennt. Rabbi Salman amtiert in Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn, Rabbi Aaron in Kiryas Joel, einem kleinen Städtchen im Bundesstaat New York, dessen Einwohner überwiegend Satmarer sind.
Im Zentrum stehen neben einer strengen Auslegung des jüdischen Rechts die Bewahrung einer traditionellen Lebensweise. Die Satmarer sind bekannt für die Errichtung einer Vielzahl an für alle zugänglichen Wohltätigkeitsorganisationen. Auch der Erhalt des Jiddischen als Primärsprache ist ein wichtiger Aspekt. Hebräisch ist die „Laschon Kodesch“, die heilige Sprache, die nur beim Studium der Thora und beim Gebet benutzt wird. Die Satmar-Gemeinschaft folgt einer hierarchischen sozialen Struktur, wobei der Satmar-Rebbe als oberste Autorität fungiert. Großer Wert wird auf die Wahrung der Geschlechtertrennung gelegt, für den Umgang zwischen Männern und Frauen gibt es strenge Richtlinien. Eine wichtige Rolle spielt die starke Ablehnung des Zionismus. Satmar-Chassidim betrachten die Gründung des Staates Israels als einen Verstoß gegen religiöse Prinzipien und sind der Ansicht, dass nur der Messias die jüdische Souveränität wiederherstellen kann.
Von Belz nach Wien
Die Belz-chassidische Gemeinschaft entstand im frühen 19. Jahrhundert unter der Führung von Rabbi Shalom Rokeach in der Stadt Belz im damaligen Polen und in der heutigen Ukraine. Die Gemeinschaft wuchs bis zum Zweiten Weltkrieg, wurde allerdings während der Besetzung Polens fast gänzlich vernichtet. Unterstützt durch Chassidim aus dem Exil gelang dem Rebbe und seinem Halbbruder Rabbi Mordechai von Bilgorai im Jänner 1944 die Flucht über Budapest nach Palästina. Seitdem hat die Belz-Gemeinschaft, die heute als ein bedeutender Bestandteil des Chassidismus gilt, Zentren in Israel, den Vereinigten Staaten und in Europa etabliert.
Spirituelle Hingabe, Demut, das Wohl der Gemeinschaft und strikte Einhaltung der Halacha sind Säulen des Belz-Chassidismus. Dabei ist das „D’veikut“, also des Verweilens bei Gott durch Gebete, Thora-Studium und Handlungen der Güte, eines der wichtigsten Prinzipien. Wie in allen chassidischen Gruppen stehen aufwendige und lange Gebetsdienste, die drei Mal täglich stattfinden, im Zentrum des Alltags. Die Synagoge dient als zentraler Treffpunkt für das gemeinschaftliche Leben und fördert ein Gefühl der Einheit und der kollektiven spirituellen Erfahrung. Die charakteristischen Melodien und Gesänge während des Gebets, oft begleitet von einem großen Chor, sind Markenzeichen des Belz-Gottesdienstes. Jeschiwas (religiöse Schulen) werden gegründet, um eine umfassende Bildung in jüdischen Texten zu bieten, wobei der Schwerpunkt auf Talmud und Kabbala liegt. Das Streben nach Wissen wird als Mittel betrachtet, um die spirituelle Verbindung zu vertiefen und intellektuelles Wachstum zu fördern.
Nicht so stark ausgeprägt wie bei den Satmarern, legen aber auch die Belzer großen Wert darauf, Bedürftigen zu helfen und sich in sozialen Wohlfahrtsaktivitäten zu engagieren. Zahlreiche mit den Belzern verbundene Organisationen betreiben Krankenhäuser, Waisenhäuser und Schulen, um die jüdische Gemeinschaft insgesamt zu stärken und zu unterstützen. Diese Institutionen sollen am Judentum interessierten Menschen dieses näherbringen.
Das größte Ereignis sind die regelmäßigen Festtreffen, „Tish“ genannt, die jeden Freitagabend sowie zu allen jüdischen Feiertagen stattfinden und die vom Rebben geleitet werden. Diese Treffen umfassen gemeinsames Singen, Tanzen und Lehren des Rebbe.
In Wien leben laut Schätzungen zweihundert bis dreihundert chassidische Familien, die besonders in den letzten zehn, fünfzehn Jahren starken Zuwachs bekommen haben. Das liegt einerseits an einem sicheren Umfeld; anders als in Frankreich oder Großbritannien gibt es keine bedeutende Bedrohung von außen. Andererseits spielt auch die ökonomische Situation eine Rolle: Wien ermöglicht ein vergleichbar leistbares Leben und verfügt zudem über eine ausgeprägte jüdische Infrastruktur. Chassidische Gruppierungen in Wien beten gemeinsam und formieren daher eine diverse Community, auch für sogenannte weltliche Juden.
Vom Unterricht des Baal Shem Tov bis zum Wachstum von Chabad-Lubawitsch, Satmar und Belz hat jede Gemeinschaft zum Gesamtbild der jüdischen Spiritualität beigetragen. Während diese Gemeinschaften sich in der modernen Welt bewegen, eint sie eine überaus ausgeprägte Hingabe für die Wahrung ihrer Traditionen und eines tiefen Glaubens.