Teilt euch die Stadt

Daniel Barenboim ©-BERND-VON-JUTRCZENKADPAPICTUREDESK.COM

Nicht nur Israel hat ein Existenzrecht, auch Palästina. Die Welt muss beide als Staaten anerkennen.

Die Entscheidung der amerikanischen Regierung, die US-Botschaft in Israel nach Jerusalem zu verlegen und Jerusalem damit de facto als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ist die jüngste in einer Reihe gravierender geopolitischer Entscheidungen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie macht deutlich, dass jeder Vorstoß von außen dazu tendiert, eine der beiden Konfliktparteien zu favorisieren und die andere zu demoralisieren. Dies führt zu Euphorie auf der einen Seite und Gewalt auf der anderen. Wird dem nicht deutlich und geschlossen entgegengetreten, so rückt eine Lösung des Konfliktes in noch weitere Ferne.

Das aus der US-Entscheidung resultierende erneute Aufflammen der Gewalt sowie die internationalen Reaktionen zeigen, dass es notwendig ist, einige Aspekte des Konfliktes neu zu beleuchten. Seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten spricht die Welt über die Möglichkeit einer Zweistaatenlösung – allerdings muss man sich fragen: Wo ist der zweite Staat?

Dies ist besonders wichtig, da der israelisch-palästinensische Konflikt ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger ist. Konflikte gibt es in der Regel zwischen zwei Nationen oder Volksgruppen, die sich über Grenzen oder Ressourcen wie Wasser oder Öl streiten. Beim israelisch-palästinensischen Konflikt jedoch handelt es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei Nationen oder Staaten, sondern zwischen zwei Völkern, die zutiefst überzeugt sind, ein Recht auf das gleiche kleine Stück Land zu haben, und die auf diesem Land leben wollen – vorzugsweise ohne den anderen. Deswegen kann dieser Konflikt weder militärisch noch rein politisch gelöst werden. Es muss eine menschliche Lösung geben.

Die Fakten sind bekannt, und es ist nicht notwendig, sie im Detail zu wiederholen. Die Entscheidung von 1947, Palästina zu teilen, wurde damals von der gesamten arabischen Welt abgelehnt. Vielleicht war diese Entscheidung oder die Reaktion darauf ein Fehler, aus palästinensischer Sicht war sie eine Katastrophe. Aber es gab sie nun mal, und wir alle mussten lernen, mit ihren Konsequenzen zu leben. Längst haben die Palästinenser ihren Anspruch auf die Gesamtfläche Palästinas aufgegeben und sich zur Teilung bereit erklärt. Israel hingegen betreibt weiterhin illegalen Siedlungsbau auf palästinensischen Gebieten und zeigt dadurch mangelnde Bereitschaft, es den Palästinensern gleichzutun. Es gibt einige Aspekte des Konfliktes, die gewissermaßen symmetrisch sind. Andere sind hingegen asymmetrisch: Israel ist schon ein Staat, ein sehr starker Staat, und muss daher einen größeren Teil der Verantwortung übernehmen.

Niemand stellt das Existenzrecht Israels heute noch seriös infrage. Dennoch ist die Welt in der Israel-Frage gespalten: Einerseits gibt es Nationen, die eine Verantwortung für das fühlen, was Europa den Juden angetan hat, und man kann nur dankbar sein, dass dies nach wie vor so ist. Leider gibt es auf der anderen Seite noch immer Menschen, die den Holocaust verleugnen, was einige extreme Positionen in der arabischen Welt beflügelt und die jüdische Bevölkerung Israels zu Recht verzweifeln lässt. Aber bei aller gerechtfertigten Kritik an der palästinensischen Feindschaft gegenüber Israel darf man sie nicht als Fortsetzung des europäischen Antisemitismus sehen.

Angesichts der unilateralen Entscheidung der USA appelliere ich an den Rest der Welt: Erkennen Sie Palästina als Staat an, so wie Sie Israel als Staat anerkannt haben. Man kann keinen Kompromiss zwischen zwei Völkern, noch nicht einmal zwischen zwei Menschen erwarten, die einander nicht anerkennen. Für eine Zweistaatenlösung brauchen wir zwei Staaten, und die gibt es momentan nicht. Palästina ist seit 50 Jahren besetzt, und man kann von den Palästinensern nicht erwarten, aus dieser Position in Verhandlungen zu gehen. Alle Nationen, die an einer Zweistaatenlösung ernsthaft interessiert sind, müssen Palästina als Staat anerkennen. Eine gleichberechtigte Zweistaatenlösung wäre der einzige Weg zu Gerechtigkeit für die Palästinenser und zu Sicherheit für Israel.

Was Jerusalem betrifft, so erscheint mir die Lösung logisch: Jerusalem ist für das Judentum ebenso eine heilige Stadt wie für den Islam und das Christentum. Im Rahmen einer gleichberechtigten Zweistaatenlösung sähe ich keinerlei Problem damit, Westjerusalem zur Hauptstadt Israels und Ostjerusalem zur Hauptstadt Palästinas zu machen.

Deswegen appelliere ich an die großen Nationen, die Palästina noch nicht als Staat anerkannt haben, es jetzt zu tun – mit der Verpflichtung, sofort Verhandlungen über den Grenzverlauf sowie die anderen essenziellen Aspekte des Konfliktes aufzunehmen. Dies wäre kein Schritt gegen Israel, sondern ein Schritt in Richtung einer für beide Seiten tragbaren Lösung. Es ist völlig klar, dass der Wille zu Frieden von beiden Völkern, Israelis und Palästinensern, gleichermaßen ausgehen muss. Man kann eine Lösung nicht nur von außen betreiben. Daher gehe ich noch einen Schritt weiter in meinem Appell und fordere die Völker Israels und Palästinas auf, klar und deutlich auszusprechen, dass sie genug von diesem jahrzehntelangen Konflikt haben und endlich Frieden wollen.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 53/2017. NU dankt für die Erlaubnis zum Nachdruck.

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