Aufgewachsen im Wiener Karl-Marx-Hof flüchtete Trude Grünwald 1939 von Albanien nach Großbritannien, änderte ihren Namen und wurde eine Wissenschafterin von Weltrang.
Von Axel Reiserer
Für belanglose Höflichkeiten hat Scarlett Epstein keine Zeit. „Schmeicheln Sie mir nicht, ich kann das nicht ausstehen,“ sagt sie. Dass Scarlett scharf zu schießen vermag – nicht nur verbal –, davor warnt den Besucher bereits ein Leopardenfell im Vorzimmer ihrer Wohnung im südenglischen Hove: „Den habe ich selbst erlegt“, sagt sie stolz. Das war 1955 in Südindien, wo sie damals ihren ersten von zahlreichen Forschungsaufenthalten als Sozialanthropologin verbrachte. Es mag aber auch damit zu tun haben, dass sie im Juli 88 Jahre wurde und immer noch unendlich viel zu tun hat. Nach einer Albanien-Reise Ende August erwartet sie derzeit grünes Licht für einen neuerlichen Besuch in Papua-Neuguinea, wo sie weiter Gastprofessorin an der Divine World University ist. Weitere Projekte sind in Vorbereitung: „Meine Tochter sagte kürzlich zu mir: ‚Eines Tages wird uns jemand aus Timbuktu oder irgendwo anders am Ende der Welt verständigen, dass du gestorben bist.‘“
Scarlett Epstein ist dieser Gedanke sichtlich nicht unangenehm, denn sie ist entschlossen, aktiv zu bleiben, solange sie kann. „Mein größtes Anliegen momentan ist Albanien. Denn das Land hat mir einst das Leben gerettet, und das möchte ich nun zurückzahlen.“ Kaum jemand weiß, dass das vorwiegend moslemische Albanien in den späten 1930er-Jahren eine aktive Rolle bei der Rettung der Juden vor den Nazis spielte. „Es war ein Muster an Toleranz“, meint Epstein.
Als sie im November 1938 in Durres an Land ging, war sie 16 Jahre und hieß noch Trude Grünwald. Doch ihre Kindheit lag bereits eine Unendlichkeit hinter ihr. Die Heimatstadt Wien war nur mehr eine schmerzliche Erinnerung, und die Nazis „hatten mich in das Erwachsenenleben katapuliert“.
Trude wurde 1922 als jüngstes Kind und einzige Tochter ihrer Eltern Siegfried und Rosa geboren und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in der Brigittenau. Nachdem die Familie 1930 im den Karl-Marx-Hof gezogen war, mischte sich in die Freude über die Verbesserung des Lebensstandards bald eine schockierende Erfahrung: „Als ich das erste Mal mit den neuen Nachbarkindern spielen wollte, steckten sie mir die Zunge entgegen und riefen: ‚Saujüdin, Saujüdin!‘“
Trude war „völlig schockiert“, umso mehr als ihre Eltern auf Drängen ihres Vaters von jeder jüdischen Erziehung Abstand genommen hatten. Obwohl die Mutter aus einer orthodoxen Familie stammte, fügte sie sich dem Wunsch ihres Mannes, der sich als Sozialist und Atheist verstand und als Handelsreisender in der Not der Nachkriegszeit oft genug bangen musste, die Familie ernähren zu können. Auch der älteste Bruder Otto wurde Sozialist und war aktiv in die Bürgerkriegskämpfe 1934 involviert, während Bruder Kurt stets eher zurückgezogen blieb. Zwischen Otto und Trude, kann man sich vorstellen, war nicht allzu viel Platz.
Aufgrund ihrer Intelligenz ragte Trude schon in der Volksschule hervor, doch ihre Mutter „hielt eine höhere Ausbildung für eine Verschwendung an Geld und Zeit“, schreibt Trude in ihrer Autobiographie „Swimming Upstream“ (Gegen den Strom). Doch mit hervorragenden Leistungen gelang ihr die Aufnahme an das Gymnasium Glasergasse, wo sie sich erneut hervortat und fortan davon träumte, Ärztin zu werden: „Ich arbeitete doppelt so hart, um Mama zu beweisen, dass ich mindestens so klug war wie meine Brüder.“ Widerstand spornte Trude Zeit ihres Lebens zu Höchstleistungen an.
Der Vater entging den Februar-Kämpfen 1934, weil er damals schon für „unseren reichen Onkel Willy“, der in Marburg eine Textilfabrik hatte, arbeitete und in Jugoslawien war. Ebenso entging er dem Einmarsch der Nazis am 11. März 1938. Auf Instruktion von Otto suchte Trude am nächsten Tag die jugoslawische Botschaft auf, um Visa für die Familie zu bekommen. „Ich zog mich wie ein Nazi-Mädchen an, um nicht aufzufallen. Als ich die Ringstraße erreichte, fuhr gerade Hitlers Konvoi vorbei und die Menge hob den rechten Arm und brüllte: ‚Heil Hitler! Heil Hitler!‘ Ich wurde von der Massenhysterie mitgerissen und fiel in die Rufe ein.“ Damals war Trude schockiert über sich, heute sagt Scarlett: „Das hat mir vermutlich das Leben gerettet.“
An der Botschaft erweist sich der Hinweis auf „unseren reichen Onkel Willy“ als unschätzbar, der Botschafter persönlich verspricht zu helfen. Bruder Otto gelingt im Mai die Ausreise nach Großbritannien, Kurt kann dann im Juli über Italien ausreisen. Wenige Tage später kommen die Visa für Jugoslawien, und Trude und ihre Mutter können das Großdeutsche Reich verlassen.
Damit endet Trudes erstes Leben. Am Tag ihres Abschieds von Wien notiert sie am 23. Juli 1938 in ihr Tagebuch: „Ich habe diese Stadt geliebt, doch nun hasse ich sie. Ich werde niemals vergessen, was man uns angetan hat.“ Ihr zweites Leben führte sie mit ihren Eltern über Jugoslawien nach Albanien. „Anlässlich seines Thronjubiläums lud König Zog Besucher aus der ganzen Welt in sein Land ein. Sogar, wer das gefürchtete rote ‚J‘ in seinem Pass hatte, bekam ein Touristenvisum.“ In Albanien fand Familie Grünwald in einer Flüchtlingsgruppe Unterschlupf, Trude wurde bald Wortführerin der Gruppe und zur Lehrerin der Kinder eines Ministers: „Das Leben hatte für mich wieder einen Sinn, und ich hatte etwas zu tun.“
Doch alles endete mit dem Einmarsch des faschistischen Italiens zu Ostern 1939. Obwohl die italienischen Truppen sich als harmlos herausstellen und Trude mit Hilfe ihrer Verbindungen rasch Zugang zum italienischen Konsul findet, der ebenfalls Deutsch lernen will, ist der Aufenthalt in Albanien nicht mehr sicher. Der unermüdliche Otto treibt britische Visa für die Mutter und Trude auf, der Vater muss vorerst zurückbleiben.
Die Ausreise mit dem Schiff über Neapel misslingt, und die Zeit drängt immer mehr. Air France verweigert allen Juden die Beförderung. Schließlich bleibt ein einziger Weg: Die Flugreise über Nazi-Deutschland mit Zwischenlandungen in Frankfurt und Köln. Als Trude und ihre Mutter am 21. April 1939, einen Tag nach Hitlers Geburtstag, in Rom eine Maschine nach Mailand und dann weiter nach Frankreich, Köln, Amsterdam und London bestiegen, „war meine Mutter mehr besorgt über die Gefahren des Fliegens als über unsere Reise durch Deutschland. Ich fand das beruhigend. Sie konnte einfach nicht glauben, dass ein Flugzeug sicher fliegen und landen könne.“ Bei der Ankunft in London suchte Trude vergeblich ihren Bruder Otto und sprach ihre ersten englischen Worte: „No speak English.“
Das sollte sich sehr rasch ändern, während ihr drittes Leben beginnt. Trude findet Arbeit als Näherin in einer der Fabriken des Londoner East End. Wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 gelingt es dann auch dem Vater, nach Großbritannien zu kommen.
Während sich die Grünwalds glücklich schätzt, dass alle fünf Familienangehörigen dem Nazi-Regime entkommen konnten, gilt bei Kriegsbeginn die Sorge den zahlreichen Verwandten mütterlicher- und väterlicherseits in Polen und der damaligen Tschechoslowakei. Niemand sollte überleben. Scarlett Epstein schreibt später: „Hitler hat uns etwas geraubt, das wir nie wieder zurückbekommen sollten: Ein normales Leben.“
Nachdem Bruder Otto Großbritannien vor Kriegsausbruch in Richtung Australien verlässt, fühlt sich Trude einmal mehr verantwortlich, die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Auf Drängen von Bruder Kurt zieht man aber nach Manchester. Trude findet neue Arbeit und schafft es auch, nebenbei zu studieren – lange gegen den Willen der Eltern. Bei Kriegsende hat sie einen Abschluss des Salford Technical College und ist dabei, einen weiteren Lehrgang am Manchester College of Technology zu beenden.
Das Kriegsende ist der nächste große Einschnitt im Leben von Trude Grünwald, und es ist der Zeitpunkt, wo sie ihren Vornamen auf Scarlett ändert. Das volle Ausmaß der Nazi-Verbrechen wird bekannt: „Wie viele gerieten meine Eltern zunächst in einen Schockzustand und wurden danach zu Zombies. Es war einfach unvorstellbar, was geschehen war. Ich hasste es, das Leid meiner Eltern zu sehen, doch statt Trauer entwickelte ich Zorn.“ Als Reaktion suchte sie nicht nur um die britische Staatsbürgerschaft an, sondern änderte auch ihren Namen auf Scarlett im Gedenken an die Hauptperson von „Im Winde verweht“. „Der neue Name gab mir eine neue Identität. Ich versuchte, die Entschlossenheit und den Siegeswillen von Scarlett O’Hara zu übernehmen.“ Das ist ihr gelungen: Scarlett ist so brilliant in ihren Studien, dass sie Herbst 1949 einen Studienplatz in Oxford gewinnt.
Es ist der Beginn einer akademischen Laufbahn, die Epstein nach einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften in die Anthropologie führen wird. Es wäre aber nicht Scarlett Epstein, wäre der Start nicht unter dramatischen Umständen erfolgt: Wenige Tage vor der Abschlussprüfung im Mai 1953 verbrannte sie beinahe, als ihre Kleidung Feuer fängt. In Folge wird sie zu einer lokalen Berühmtheit, als sie mit Sondergenehmigung ihre Prüfung vom Krankenbett ablegen darf und souverän besteht.
Der Anthropologen Bruno Gluckman wird in Folge zu einer entscheidenden Person in ihrem Leben: Nicht nur weckt er ihr Interesse an seinem Forschungsgebiet, Gluckman beschäftigt auch einen talentierten, aber ziemlich schüchternen Forschungassistenten. Sein Name ist Arnold Leonard Epstein, doch jeder nennt ihn Bill. Er sollte Scarletts Mann fürs Leben werden. Sie heiraten 1957.
Beruflich eilen Scarlett und Bill in ihrem fünften Leben als Wissenschaftlerin von Erfolg zu Erfolg. Studienaufenthalte in Indien und PapuaNeuguinea, unzählige Publikationen, mehrere Filme, schließlich auch Professur und offizielle Anerkennung und Ehrung (gekrönt im Jahr 2004 durch die Verleihung des Titels „Officer of the Order of the British Empire“ durch die Queen. Doch jahrelang erleidet Scarlett eine Fehlgeburt nach der anderen. „Ungeachtet aller beruflichen Erfolge fühlte ich mich als Frau als Versager. Und mehr als einmal sagte ich zu Bill, er solle sich eine ‚richtige‘ Frau suchen, die ihm Kinder schenken kann.“ Im Februar 1963 und im Oktober 1964 jedoch kommen die beiden Töchter des Ehepaars Epstein zur Welt, heute ist Scarlett stolze Großmutter von vier Enkelkindern.
Auch dass sie das erlebt, ist ein Wunder, denn zwischenzeitlich war sie lebensgefährlich zweifach an Krebs erkrankt. Ihr schierer Lebenswille, ihre ungeheure Kraft, ihr unermüdlicher Verstand und ihre Familie hielten sie am Leben. „Ich bin ein medizinisches Wunder“, sagte sie über sich und lacht. „Nach allen Regeln sollte es mich schon längst nicht mehr geben.“ Vor der Krebsoperation 1980 spricht sie eine Abschiedsbotschaft für ihre ältere Tochter auf Band. Der Erfolg des Eingriffs bedeutet für Scarlett ein sechstes Leben.
Umso schwerer trifft sie nach langem schweren Leiden der Tod von Bill im Jahr 1999 nach 42 gemeinsamen Ehejahren. Im Gegensatz zu Scarlett stammte er aus einem orthodoxen Elternhaus und prägte auch seine Familie mit einer starken jüdischen Identität. Scarlett ist ihm auf diesem Weg gefolgt, doch einem orthodoxen Glauben anzuhängen, ist für einen Freigeist selbst im Alter von 88 Jahren immer noch schwer. „Ich habe nie an Gott geglaubt“, sagt sie heute. Umso mehr bedeutet ihr heute ihre jüdische Identität. „Ich habe es bedauert, dass unsere Eltern meinen Brüdern und mir davon nichts mitgegeben haben, und ich habe immer umso größeren Wert darauf gelegt, dass unsere Töchter ein starkes jüdisches Bewusstsein haben. Nicht nur wegen Bill, sondern auch wegen dem, was die Nazis gemacht haben.“
Nach Wien kam Scarlett trotz ihrer Tagebucheintragung von 1938 bereits im September 1952 erstmals zurück. „Es schien eine völlig andere Stadt zu sein. Ich war hier aufgewachsen, aber es gab niemanden mehr hier, den ich besuchen hätte können. Sie waren entweder geflüchtet oder in den Konzentrationslagern verschwunden. Was ich immer tat, diese Jahre würden nie wieder rückgängig zu machen sein. Ich verließ Wien mit dem Gefühl, dass mein Hass und mein Bedürfnis nach Rache verschwunden waren. Ich verstand, dass ich nichts ändern konnte, aber auch, dass mein Schicksal in meiner Hand lag.“
Ihr siebtes Leben führt Scarlett heute in hohem Alter typischerweise in produktivem Unruhezustand. In den letzten Jahren ist Scarlett auch immer wieder in Wien zu Gast. Sie nahm an der Aktion „Letters to the Stars“ teil und tritt häufig in Schulen als Zeitzeugin auf. „Das letzte Mal wurden wir wieder gefragt, ob wir vergeben und vergessen können. Ich weiß nicht, ob der Mensch aus der Geschichte lernt. Aber was ich heute an jungen Menschen sehe, das gibt mir schon Hoffnung. Das soll auch einmal gesagt werden.“