Von Helene Maimann
Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest, steht am Anfang der „Hohen Feiertage“. Zehn Tage der Buße, aber auch der Fröhlichkeit, an deren Ende der Höchste Feiertag, Jom Kippur, an dem strenges Fasten ohne Essen und Trinken vorgeschrieben ist, steht. (Übrigens geht der im Deutschen übliche Neujahrswunsch „Guten Rutsch“ auf das Wort „Rosch“, Jahresanfang, zurück.) Wie alle jüdischen Feiertage wird Rosch ha-Schana nach dem Mondkalender bestimmt und fällt auf den ersten Neumond im Herbst. Die Familien und Freunde versammeln sich, tauchen Apfelstücke in Honig, mit dem Wunsch auf ein süßes Jahr … und essen traditionsgemäß süß und saftig: Zimmes und Lekach zum Beispiel. Oder Karotten-Kigel, ein Auflauf aus Erdäpfelmehl, Likörwein (in Amerika nehmen sie dafür den von Manischewitz, davon wird noch die Rede sein), Zimt, Zitrone, Rosinen, braunem Zucker und Karotten, die wegen ihrer rotgoldenen Farbe für Wohlstand stehen. Heiß gegessen, fällt man für den Rest des Tages in Tiefschlaf.
Zimmes ist ein würzig-süßes Gemüse- und Obstkompott aus Karotten, getrockneten Äpfeln, Birnen, Zwetschgen und Marillen, Erdäpfeln, Orangensaft, Honig, Muskat und Zimt. Es soll ganz langsam köcheln, bei niedriger Temperatur, am besten einen Tag lang. (Daher bedeutet „Zimmes“ auch so viel wie kompliziert, umständlich, ärgerlich. „Red keinen Zimmes“, mach nicht so viel Aufhebens!) Süß und saftig ist auch Lekach, ein gehaltvoller Honigkuchen, außen trocken, innen weich und feucht. Meine Mama machte den Lekach in einer großen, niedrigen Kuchenform, damit sich möglichst viel der begehrten Kruste bilden konnte (im selben Blech wurde auch die „Bubbe“ gebacken, ein Erdäpfelkuchen, heiß zum Rindsbraten serviert). Jedenfalls soll es eine rechteckige Form sein, damit sich der Kuchen leicht schneiden lässt. Wenn es dann im ganzen Haus nach Lekach roch, war die Ungeduld groß, weil er nach dem Backen rasten will. Dafür bleibt er lange saftig.
„Saftig“ ist übrigens auch ein Ausdruck für junge, hübsche, dralle Frauen. Dazu gibt es die Geschichte von den fünf „saftigen“ Mädels, die alle eine Beziehung zu einem gewissen Benno Blumenfeld unterhalten. Als sich das herumspricht, geht einer den Herrn suchen und findet weit draußen in der Vorstadt einen würdigen Großpapa mit langem weißem Bart. „Sagen Sie, wie machen Sie das?“, wird er gefragt. „Nu“, sagt der Alte, „hab ich a Fahrradl.“
Friedls Lekach
Meine Mutter Franziska, genannt Friedl, hat mir beigebracht, dass man zum Abmessen einfach ein Glas nimmt, das etwas weniger als einen Viertelliter fasst, sowie Ess- und Teelöffel.
1 Glas brauner Zucker; 1 Glas starken schwarzen Kaffee (oder Wasser); ein Viertelkilo Honig; 3 Eier; 1 TL Speisenatron; etwas gemahlener Ingwer; ½ TL Lebkuchengewürz; 1 TL Backpulver; 1 TL Zimt; ½ TL Piment; Mehl nach Bedarf (ein Viertelkilo wird reichen). Gehackte und halbierte Walnüsse und etwas Whisky (das ist meine Version) nach Belieben.
Den Ofen auf 180° vorheizen. Eine größere kastenförmige Kuchenform ausfetten, mit Backpapier auslegen, das Papier einfetten und mit Mehl bestäuben.
Die Hälfte vom Mehl und dann Zucker, Backpulver, Speisenatron, Ingwer, Zimt, Lebkuchengewürz und Piment in einer großen Schüssel mischen. Den Honig mit dem Kaffee in einem kleinen Topf vorsichtig erwärmen und, wenn man will, etwas Whisky oder Brandy unterrühren. Die Eier mit dem Öl in einer großen Schüssel gut verschlagen. Abwechselnd in 3–4 Portionen die warme Honigmischung und die Mehlmasse unter die geschlagenen Eier rühren, bis alles gut vermengt ist. Das restliche Mehl hinzufügen, bis eine cremige Masse entsteht, die noch flüssig ist.
Den Teig in die vorbereitete Form gießen. 1 Stunde backen. In dieser Zeit lege ich noch halbierte Walnüsse auf den Kuchen. Wenn an einem Fleischspieß, der in die Mitte gestochen wird, beim Herausziehen nur einige Brösel hängenbleiben, und die Oberfläche zurückspringt, wenn man mit dem Finger daraufdrückt, ist es so weit. Die Form auf ein Kuchengitter stellen und vollständig abkühlen lassen. Den Kuchen stürzen, umdrehen, in Folie einpacken und einen Tag ruhen lassen.
In orientalischen Gemeinden werden frische Datteln gegessen. Und Granatäpfel, in der Hoffnung, dass man im neuen Jahr so viele gute Taten begeht, wie sie Körner enthalten … Auch bei den Juden beginnt das neue Jahr mit den besten Vorsätzen. Und überall stehen Teller mit Ma’amúl, einem köstlichen Gebäck aus Griesteig, gefüllt mit Nüssen, Pistazien oder Datteln. Die Herstellung ist nicht unkompliziert, also fleißig üben, die kleinen Kuchen werden jedes Mal besser! In den USA, wo man kulinarisch zur Übertreibung neigt, hat sich ein koscherer Süßwein etabliert, der zu Neujahr die jüdischen Restaurants regelrecht überschwemmt und von unsereinen nur unter Aufbietung aller Kräfte konsumiert werden kann: Manischewitz. Egal, ob „Concord Grape“, „Cherry“ oder „Blackberry“ draufsteht – Manischewitz rinnt wie Melasse aus der Flasche und kann noch am ehesten tropfenweise auf einer ebenso klebrigen „Noodle Kigel Icecream“ genossen werden, wo sich die roten Tupfer sehr hübsch machen. Die Obsession der amerikanischen Juden für Manischewitz ist eines der Rätsel, die einem die Neue Welt immer wieder aufgibt …
Aber egal, wo Juden Neujahr feiern: Es fließt der Honig und die Süßmäuler kommen voll auf ihre Rechnung. Da fällt mir noch folgende Geschichte ein: Treffen sich zwei Juden, wünschen einander leschana towa, ein gutes neues Jahr, und kommen ins Plaudern … Und übrigens, sagt der eine: Wie viele Kinder haben Sie? Ich hab’ keine Kinder, sagt der andere. Ach! Und was machen Sie, um sich zu ärgern?
Also! Allen Lesern von NU alles Gute und wenig Zimmes, Grund zum Ärgern im kommenden Jahr, was ein frommer Wunsch bleiben wird … wie auch immer: Enjoy a glass of Manischewitz on the rocks!