Der deutscher Zeichner Dietmar Reinhard widmet sich mit den Mitteln des Comics dem Leben und Sterben in Auschwitz.
Von Martin Reiterer
Es gibt in diesem Comic kein Schwarz, nur Stufen von Grau, kaum merklich grundiert mit einem blassen Beige und einem gelegentlichen Braunton. Als wäre es zu einfach, das Geschehen von Auschwitz in monochromen Schwarz zu zeichnen. Selbst der Todesvogel, die einzige allegorische Darstellung innerhalb dieser Chronologie, die sich der Zeichner erlaubt, erscheint in dunklem Grau.
Dietmar Reinhards „grafische Dokumentation“ der Ereignisse in Auschwitz zwischen Frühjahr 1940 und Jänner 1945, vom Aufbau der „größten Vernichtungsfabrik der Nazis“ bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, ist eine akribische Aufzeichnung vom „Geflecht der Taten“ (Hannah Arendt), als das Auschwitz beschreibbar ist. Der heute Siebzigjährige ist bekannt für seine Arbeiten als freier Illustrator für Stern, Zeit, Süddeutsche Zeitung oder den Rowohlt Verlag. Seine konzeptionellen Porträts, vorzugsweise von Persönlichkeiten in Machtpositionen – darunter Diktatoren wie Kim Jong-un oder Stalin – sind subtile böse Satiren.
Mit Leben und Sterben in Auschwitz legt Reinhard nach einer fünfjährigen Arbeit nun erstmals einen Comic vor. Rund dreißig Jahre, nachdem Art Spiegelmans Maus – Die Geschichte eines Überlebenden auf Deutsch erschienen war, kehrt ein deutscher Zeichner im Medium des Comics an jenen Ort zurück, der zum Inbegriff des Grauens im 20. Jahrhundert geworden ist. Spiegelmans Comic über seinen Vater und Auschwitz-Überlebenden, in dem Deutsche und Juden als Katzen und Mäuse dargestellt sind, stieß zunächst auf heftige Kritik, bevor seine Darstellung des Holocaust als besondere Ästhetik des Erinnerns (an)erkannt wurde.
Zeitsprung
Wie Reinhard der Aporie der Darstellbarkeit begegnet, deutet er in einem Zitat von Hannah Arendt an, das dem Band vorangestellt ist: „Sofern es überhaupt ein ,Bewältigen‘ der Vergangenheit gibt, besteht es im Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat.“ Reinhard geht dabei an die Grenzen, denn weder blendet er die brutale Gewalt der SS-Leute aus, noch die Körper der Ermordeten. Basierend auf intensiven Quellenstudien, insbesondere auf Danuta Czechs Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945, der detailliertesten Tageschronik von Auschwitz, die sämtliche zur Verfügung stehenden Dokumente der Nationalsozialisten miteinbezieht, zeichnet Reinhard auf mehr als hundert Seiten die Geschichte von Auschwitz nach.
Der Comic beginnt mit einem Zeitsprung: 1947 wird der ehemalige Lagerkommandant Rudolf Höß, verurteilt zum Tode durch den Strang, in Auschwitz hingerichtet. Als sollte er dieses Geschehen überwachen, setzt sich ein Rabe auf eine Birke und verlässt den Ort nach Beendigung des Vorgangs. In der allegorischen Szene könnte man auch einen stummen Kommentar des Autors als Nachgeborenen erkennen.
In seinen Memoiren, die Höß in der Gefängniszeit zuvor niederschreibt, schildert er ausführlich seine „Arbeit“ in Auschwitz, die mit der Auskundschaftung des Geländes am Stadtrand von Auschwitz im April 1940 einsetzt.
Mit protokollarischer Genauigkeit folgt der Zeichner der Chronologie: dem Aufbau des Lagers, dem Kapo-System, der Ankunft des ersten Transports, den Schlägen und Schüssen, den 20-stündigen Stehappellen, der Inbetriebnahme der Öfen von Topf & Söhne, den Selektionen, dem ersten Fluchtversuch, den Foltermethoden, den Besuchen Heinrich Himmlers, der Zäsur, welche die Neuausrichtung des Lagers als gezieltes Vernichtungslager aller Juden und Jüdinnen markiert, den massenhaften Vergasungen mit Zyklon B, den Verbrennungen, den Erweiterungen des Lagers, den qualvollen Experimenten an Frauen und Zwillingen. Auschwitz hat sich rasch zu einer kühlen Mordbürokratie entwickelt: „Hier geht es um Planungssicherheit.“
Erkennende Erinnerung
Reinhard erzählt nach, er inszeniert das Geflecht der Handlungen, in historisch belegten Dialogen, doch unter Verzicht auf alle unnötige Dramaturgie. Die Inszenierung dient jener „erkennenden Erinnerung“ und Rekonstruktion, von der Arendt in ihrer Lessing-Preis-Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959) spricht, aus welcher der von Reinhard zitierte Satz stammt.
In klaren grafischen Zeichnungen zeigt Reinhards Comic die erschreckende „Banalität des Bösen“ (Arendt), die zum „Mord an Millionen durch Verwaltung“ (Theodor W. Adorno) führte. Mit dem industriellen Ablauf kontrastieren die vielen Menschengesichter, die der Zeichner immer wieder in den Vordergrund rückt. Falte um Falte, Haar um Haar setzen sich die Bilder der Menschen zusammen, Opfer wie Täter. An diesem Strich für Strich rekonstruierenden Prozess können die Leser und Leserinnen selbst teilhaben. Das Ausmaß der Menschenverachtung werden sie in den Gesichtern der Täter allerdings nicht finden können.
Dagegen macht der Comic sowohl die zunehmende Steigerung der Brutalität des Lagerpersonals sichtbar als auch die zynische Inszenierung von Freundlichkeit, die dem reibungslosen Ablauf der Mordmaschinerie dient. Den Neuankömmlingen aus „Eichmanns Güterzügen“, die direkt in den Tod geschickt werden, wird vorgegaukelt, dass sie nach einer Erfrischung eine „warme Suppe“ erwarten würde. Die Aufschriften „Brausebad“, „Desinfektion“ oder „Eine Laus, dein Tod“ vor den Vergasungskammern deuten die abgrundlose Tiefe des menschenverachtenden Zynismus an.
Reinhards präzise dokumentarische Rekonstruktion der Ereignisse geht an die Grenzen einer Ästhetik der Erinnerung. Sie bewältigt nichts, sie erinnert. Darin ist sie ein Meisterwerk der grafischen Kunst.
Dietmar Reinhard
Leben und Sterben in Auschwitz
bahoe books, 2022
128 S., EUR 25,–