Stille bewegte Bilder

Kindheit in der Biberstraße im ersten Bezirk, Flucht nach Palästina, Soldat in der Jewish Brigade der englischen Armee, Rückkehr nach Europa, Karriere in der Welt der Fotografie: Vergangenen April starb Harry Weber.
Von Werner Hanak

Ich habe ihn auf einer Reise kennen- gelernt: auf einer Reise durch seine Heimatstadt Wien. Denn am Anfang des Jahres 1995 erhielt ich den Auftrag, zur Wiedereröffnung des Jüdischen Museums mit Harry Weber gemeinsam eine Ausstellung über das Leben der Wiener jüdischen Gemeinde zu gestalten. Für Harry war Wien natürlich keine statische Angelegenheit, er legte täglich viele Kilometer zu Fuß und mit dem Auto zurück. Bestens betreut von Annette Eisenberg, der Frau des Oberrabbiners, hatte er es auf beeindruckende Weise geschafft, Porträts, Feste, Typisches und Widersprüchliches aus der vielfältigen Wiener jüdischen Gemeinde auf tausend Fotos zu bannen. Da standen wir nun, Harry, seine Assistentin Margit Münster und ich. Vor uns riesige Packen von Probeabzügen, die wir zu einer greifbaren Erzählung von 130 Ausstellungsfotos verknappen sollten.

Die meisten Fotos zeigten den orthodoxen Teil der Gemeinde. Als ich ihn darauf ansprach, meinte Harry, er selbst sei zwar nicht religiös, habe aber eine große Freude daran, dass sich die „Chassiden“ wieder in der Leopoldstadt ansiedelten. Und mit einem Grinsen im Gesicht fügte er lapidar hinzu, es bräuchte leider wohl noch eine Zeit, bis es dort wieder so aussehen würde wie in Williamsburg oder Brooklyn Heights.

Als ich von Harrys Tod erfuhr, saß ich gerade in einem Café im besagten Brooklyner Williamsburg. Vor meinen Augen zog das, was er mir aus seinem Leben erzählt hatte, vorbei: Kindheit in der Biberstraße im ersten Bezirk, Flucht nach Palästina, Soldat in der Jewish Brigade der englischen Armee, Rückkehr nach Europa. Besonders gut erinnere ich mich an die Geschichte, wie er nach Kriegsende als Mitglied der Jewish Brigade im Panzerfahrzeug, geschmückt mit einem Magen David, durch das halbe besetzte Deutschland fuhr. „Ein unglaubliches Gefühl“, erzählte er, und im nächsten Moment folgte schon einer der berühmten Weberschen Wutanfälle: „Ich könnt mich so ärgern, dass ich damals noch nicht fotografiert habe!“

Harry war ein Jäger, ein Bilderjäger. Vor einigen Tagen traf ich seine liebe, tapfere Frau Marianne. Sie erzählte mir, dass ihn die Realität oft nur dann interessierte, wenn sie sich verbildlichen ließ. „Wenn ich ihn vom Balkon aus rief, er solle sich den herrlichen Sonnenuntergang anschauen, rief er zurück, den habe er doch schon hundert Mal fotografiert!“

Es war Marianne, die ihm die Welt der Fotografie eröffnet hatte. Als Harry und sie sich 1946 in Salzburg kennenlernten, arbeitete sie als Laborantin bei einer Pressefotografin. Und als sie Harry ein paar Jahre später nach Wien folgte, war sie es, die seine ersten Bilder vergrößerte. Um dem vom Vater vorgezeichneten Lebensweg des Ge-schäftsmanns zu entkommen, bewarb sich Harry Anfang der 50er Jahren bei zahlreichen Fotoredaktionen, und der „Stern“ schickte ihn daraufhin auf

eine Probetour. Es folgten zehn frei-berufliche Jahre für das Magazin, danach wurde Harry Cheffotograf der Wiener Redaktion und zu einem großen Chronisten Wiens und der Welt, die er im großen Stil bereiste. 1984 setzte er einen Schritt, für den ich ihn immer sehr bewundert habe: Er schaffte es, sich von täglichen Aufträgen zu befreien und mehr und mehr seinem eigenen Auftrag zu folgen: Salzburger Festspiele, Theater in der Josefstadt und schließlich immer mehr Buch-projekte und Ausstellungen. Sein Re-vier blieb zumeist seine Umgebung: Wien, Wien und nochmals Wien.

Bevor er sich seiner Gemeinde, der Wiener jüdischen Gemeinde näherte, zeigte er im Historischen Museum der Stadt Wien (heute: Wien Museum) sein Projekt „Die Anderen“, eine Ausstellung über Ausländer in Wien. Harry hatte eine tiefe Verbundenheit mit allen Außenseitern und er hatte auch Angst vor einem Klima, das diese Außenseiter der totalen Willkür überlassen würde. Er selbst hatte es erlebt. 1938 war er mit seinem Freund Hans in der Schottengasse unterwegs gewesen, und als sich SA-Männer vor ihnen aufbauten und fragten „Seid’s es Juden?“, trauten sich die beiden Burschen nichts anderes als „Ja“ zu sagen. Was folgte, war Bodenaufwischen in einem Innenhof und eine sadistisch inszenierte Hinrichtungsszene, bei der sie die Gewehrkolben hinter sich knacken hörten. Harry konnte sich in weiterer Folge nach Palästina retten, seine Eltern nicht. Während sein Vater die Lager überlebte, wurde seine Mutter in Minsk ermordet.

Als ich Harry Weber Mitte der neunziger Jahre kennenlernte, stieg der politische Druck in Österreich gerade stark an. Die Briefbomben und der Aufstieg von Jörg Haider verunsicherte ihn damals zutiefst. „Ich habe Angst“, sagte Harry, wenn sich das Klima verschärfte. Seine Reaktion war nur zu verständlich. Auf Reisen im Ausland blühte er zumeist auf. Mit seiner Ausstellung „Heute in Wien“ fuhren wir gemeinsam viel herum, nach London, Jerusalem und Chicago. Die Präsentation der Ausstellung in der Galerie des House of Congress in Washington 1997 bedeutete für Harry den Höhepunkt.

Viele Jahre später, Harry hatte inzwischen seine Retrospektive im Kunst-historischen Museum gezeigt, rief er mich an und lud mich zu seiner neuen Ausstellung ins Stift Kloster-neuburg ein. Das war letzten Sommer, und Harry war sichtlich älter geworden. Er war immer ein leidenschaftlicher Auto-fahrer gewesen, doch diesmal meinte er: „Du musst mich abholen, ich hab’ mein Auto verkauft.“ „Haben sie dir den Führerschein weggenommen?“ „Ich hab ihn selbst zu-rückgegeben“, erklärte er verärgert, „mein größter Fehler! Aber ich hab ein neues Projekt, eine Fotoausstellung über Wien. Und immer, wenn ich im Auto durch die Stadt gefahren bin und etwas Interes-santes gesehen habe, musste ich einfach fotografieren. Aber die Automatik ist immer weitergefahren. Es wurde einfach zu gefährlich …“

Harry war also immer noch in Bewegung, auf der Jagd nach dem besten Bild. „Harry Weber – Das Wien-Projekt“ heißt seine neue Ausstellung, doch bei der Eröffnung im Oktober im neuen „Museum auf Abruf“ ist er nicht mehr dabei. Eine Tatsache, die mir unvorstellbar ist. Genauso unvorstellbar wie die Tatsache, dass er nicht mehr nach Bildern jagt und dass er sich nicht mehr ärgert, wenn er ein Bild nicht bekommt.

Nun hat Harry Weber seine Ruhe gefunden. Seine Welt, die er jahrzehntelang ruhelos festgehalten hatte (vielleicht, weil sie ihn einmal auf so furchtbare Weise losgelassen hatte?), hinterließ er uns in Form von abertausenden Bildern. Auf den Bildern finden wir Menschen, Menschen und immer wieder neue Menschen. Und wenn wir genau hinsehen, so merken wir, dass uns diese Menschen ziemlich ähnlich schauen.

 

„Harry Weber – Das Wien-Projekt“ ist im neuen „Museum auf Abruf“ neben dem Rathaus vom 19. Oktober 2007 bis zum 12. Jänner 2008 zu sehen.

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