Im Norden Londons lebt die ultra-orthodoxe Gemeinde von Stamford Hill.
Von Axel Reiserer, London
Es dauert keine 30 Minuten mit dem Autobus, um von der Londoner City nach Stamford Hill zu gelangen. Doch zugleich ist es eine Zeitreise in eine tief verborgene und ferne Welt. Sie führt von den gleißenden Bürotürmen der wichtigsten Finanzmetropole Europas mitten hinein in ein jiddisches Schtetl.
Ein Schtetl mit Männern mit Kaftanröcken, Schläfenlocken, Kippa und Tefillin. Ein Schtetl mit Frauen mit langen dunkelblauen Röcken, bedecktem Kopf und stets gesenktem Blick. Ein Schtetl mit Kindern, die streng nach Mädchen und Buben getrennt erzogen werden. Ein Schtetl, wo zum Morgengebet die Männer sagen: „Gepriesen seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums, der mich nicht als Frau geschaffen hat.“ Und die Frauen sagen: „Gepriesen seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums, der mich nach seinem Willen geschaffen hat.“
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein in Stamford Hill, und der Besucher müsste sich nicht wundern, würden plötzlich Manès Sperbers „Wasserträger Gottes“ irgendwo um die Ecke biegen. Die Straßen sind nur unwesentlich besser als in einem polnischen Schtetl des 18. Jahrhunderts (das sind sie freilich im Nordlondoner Bezirk Hackney, zu dem Stamford Hill gehört, nirgends), von wo die ersten Einwanderer Ende der 1890er Jahre hierher kamen. Dafür wurden die Pferdefuhrwerke durch Volvos ersetzt.
„Volvo City“
Alte Kombi-Modelle der schwedischen Automarke sind so allgegenwärtig, dass eine Dokumentation des britischen Senders Channel 4 über die ultra-orthodoxen Bewohner von Stamford Hill den Titel „Volvo City“ trug. Für die Beliebtheit dieser Autos gibt es mehrere Gründe. Mancher Bewohner räumt ein, dass manche Fahrer so intensiv mit Glaubensfragen beschäftigt seien, dass sie nicht zu den allerbesten Autofahrern gehören. Andere sehen die an Leichtpanzer erinnernden Kombis als Zeichen für die Abschließung der Gemeinde von der äußeren Welt.
Zvi Passauer, dessen Name hier auf seinen Wunsch geändert wurde und der seit mehr als 30 Jahren an der Lubawitscher Schule Buben Hebräisch beibringt, hat freilich noch eine Menge anderer Erklärungen: „Erstens sind die Autos gebraucht verdammt billig und sehr zuverlässig, und niemand hier würde ein neues Auto kaufen. Selbst wenn man es sich leisten kann, würde man das als geschmacklos ansehen. Zweitens haben die meisten hier sehr große Familien, da brauchen sie einen Kombi. Und drittens ist der Volvo-Kombi das einzige Modell, in dem ein gläubiger Jude seinen Hut auflassen kann.“
Seine Schule ist eine von dutzenden, die in Stamford Hill das Wissen und den Glauben an die nächste Generation weitergeben. „Wir sind das Volk Gottes, und wir sind ein Volk des Buches, das heißt des Lernens“, sagt er. 140 Buben im Alter zwischen fünf und 13 Jahren besuchen seine Schule, der Vormittag dient den weltlichen, der Nachmittag den religiösen Studien. Wie man in einer sekulären Gesellschaft und einer so schreiend lauten Stadt wie London den orthodoxen Glauben bewahren kann? Passauer: „Durch das Studium der Thora.“ Genau dem widmen sich viele männliche Bewohner von Stamford Hill ihr Leben lang. Die Folge ist eine vergleichsweise niedrige Erwerbsquote: Nach der einzigen soziologischen Untersuchung der Gemeinde aus dem Jahr 2002 gehen nur 22 Prozent der Erwachsenen einer bezahlten Vollzeitbeschäftigung nach. Die Gemeinde sorgt für jene, die ihr Leben den Studien widmen. Mehr als 70 Synagogen gibt es, zum Teil in Privathäusern, und zwischen ihnen bestehen zum Teil ernste Rivalitäten. Die Kehrseite dieser radikalen Abwendung vom weltlichen Leben ist, dass mehr als 50 Prozent der Bevölkerung von Stamford Hill in Armut leben.
Zukunft in einer Satellitenstadt
Das wird durch den enormen Kinderreichtum noch verstärkt. Die jüdische Bevölkerung in Stamford Hill wuchs von rund 7.000 in den 1980er Jahren auf derzeit etwa 25.000. Die Folge ist enorme Raumknappheit, seit Jahren plant ein Teil der Juden von Stamford Hill die Übersiedlung nach Milton Keynes, einer Satellitenstadt rund 100 Meilen von London. 300 Familien wollen angeblich 2007 in ein Vorzeigeprojekt ziehen. Andere sind nicht überzeugt. „Ein Jude gehört in die Stadt“, sagt Abraham Pinter von der Union of Orthodox Hebrew Congregations.
Auf jede Familie kommen derzeit statistisch durchschnittlich sieben Kinder. „Dass wir unser Leben an Kinder und Enkelkinder weitergeben können, bedeutet, dass Hitler nicht gewonnen hat“, sagt Yaakov Wise, dessen Familie aus Ungarn und Rumänien stammt und dessen Mutter dem Holocaust entkam. „Alle ihre Verwandten wurden ermordet.“ Während wir sprechen, sitzt er mit drei Kindern im Auto und wartet auf eine weitere Tochter, die er von der Schule abholt. Dann erwähnt er noch zwei erwachsene Kinder, die in Israel leben. „Sie haben also sechs Kinder? Gratuliere.“ – „Aber woher denn!“, lautet die empörte Antwort, „Ich habe elf Kinder.“
Für diese in erster Linie zuständig ist seine Frau, so wie es alle Frauen der ultraorthodoxen Gemeinde sind. Ihre Aufgaben liegen ganz im häuslichen Bereich: Geburt, Kindererziehung, Haushalt. Selbstständigkeit und Berufstätigkeit sind nicht vorgesehen. Selbst den Familien-Volvo lenkt der Mann, während die Frau hinten zu sitzen hat.
In ihrem brillanten Roman „Disobedience“ schildert Naomi Alderman, die selbst aus einer orthodoxen Familie stammt, die Schwierigkeiten, mit den rigiden Strukturen der Gemeinde umzugehen – insbesondere, wenn sich jemand den Vorgaben nicht unterwerfen will. Das im Frühjahr erschienene und mit dem renommierten Orange Prize ausgezeichnete Buch schildert die Rückkehr einer Frau, die von dem als oppressiv empfundenen Hintergrund nach New York geflüchtet ist, zum Begräbnis ihres Vaters, eines hochverehrten Rabbis, und die Konfrontation mit ihrer früheren Geliebten.
Britischer als die Briten
Das Buch ist die erste Schilderung aus dem Innenleben der strenggläubigen jüdischen Gemeinde in Großbritannien seit George Eliots „Daniel Deronda“ aus dem Jahr 1876. Lesbische Liebe, der Abfall der Tochter eines Rabbis von der orthodoxen Tradition (nicht unbedingt vom Glauben, das macht die Autorin im Buch, aber auch im Gespräch sehr klar), das Infragestellen des gesamten Zusammenhalts der Gemeinschaft – all das löste einen ziemlichen Skandal aus. Freilich einen, über den niemand offen spricht: „Angeblich kursiert ein mittlerweile von Eselsohren und Flecken übersätes Exemplar meines Buches in der Gemeinde“, sagt sie. „Aber mich hat hier niemand offen auf irgendwas angesprochen. In gewisser Hinsicht sind wir längst britischer geworden als die Briten.“
Zusammenstehen und schweigen ist auch bei anderen Ereignissen, die der Gemeinschaft ins Mark gehen, die vorherrschende Reaktion. Als vor Jahren der Sohn des Oberhaupts der Sassower Chassiden mit 70 Millionen Pfund, die er gutgläubigen Menschen mit dem Versprechen auf gewinnbringende Investitionen abgenommen hatte, über alle Berge verschwand, weigerten sich die Opfer, die Behörden einzuschalten. Noch größer war die Aufregung kürzlich, als eine Familie es wagte, den sexuellen Missbrauch ihrer fünfjährigen Tochter bei der Polizei anzuzeigen. Vor dem Haus der betroffenen Familie sammelten sich Hunderte und schrien: „Moisser“ (jiddisch für Verräter) – Männer und Frauen streng getrennt. Dass jemand aus dem Leben auf Stamford Hill ausbrechen könnte oder auch nur wollte, wie es Alderman beschreibt, bestreitet Eli Landau vehement. Der 24-Jährige ist Englischlehrer an der Talmud Torah Bobov Schule neben der prachtvollen New Synagogue in der Egerton Road. 250 Buben werden hier unterrichtet – in Jiddisch, jener Sprache, die Rabbi Shlomo Halberstam sprach, der im galizischen Bobowa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Begründer dieser Gruppe innerhalb der chassidischen Bewegung wurde.
Nachdem er zuerst meint, er spräche eigentlich kein Englisch, um den Besucher loszuwerden, dann aber erzählt, dass er Englischlehrer ist, reagiert Eli mit großem Erstaunen auf die Frage, was mit Schülern passiert, die nach Abschluss der Grundschule an eine höhere Schule und danach vielleicht sogar an eine britische Universität gehen wollen. „Ich verstehe diese Frage nicht. So etwas kommt bei uns nicht vor. Wir besuchen die Schule, wir heiraten, wir haben Kinder und wir studieren die Thora.“ –„Und es gibt keine Aussteiger?“ – „Nein.“ – „Und es erliegt niemand den Verlockungen der Stadt, und niemand wird durch Fernsehen oder andere Medien verführt?“ – „Wir haben kein Fernsehen, wir gehen nicht in die Stadt, wir lesen keine Zeitungen. Vielleicht täglich eine halbe Stunde Nachrichten im Radio hören, das ist in Ordnung. Aber wer hier einen Fernsehapparat hätte, der würde völlig verachtet werden. Das ist doch alles nur Schmutz und bedeutungsloses Zeug.“
Kein Fernsehen
Tatsächlich wird man in Stamford Hill an (fast) jedem Haus eine Mesusa, nirgendwo aber eine Fernsehantenne, ganz zu schweigen von einem Satellitenempfänger, finden. (Dafür hat praktisch jeder Mann ein Handy am Ohr, aber keine einzige Frau.) Ebenso ist es vielleicht die einzige Gegend Londons ohne Kinos, Restaurants, Bars und Pubs. Und anstelle der sonst unausweichlichen Supermärkte bäckt auf der Highstreet Grodzinski Brot unter Aufsicht eines Rabbis, passt Zilberman Brillen an und gibt es bei „Taste of Carmel“ koscheren Hering in Zwiebel und Rahm.
Eli ist zugleich aber auch einer der wenigen, die bereit sind, über eine Zunahme antisemitischer Attacken zu sprechen, während die meisten darüber lieber schweigen. Stamford Hill grenzt an Gebiete mit starker moslemischer und karibischer Bevölkerung. Nach Angaben der Wohltätigkeitsorganisation Community Safety Trust stieg die Zahl antisemitischer Vorfälle in Großbritannien von 2004 bis 2005 um mehr als 42 Prozent auf über 400. Neben der Grabschändungen und anderen Vandalenakten gehörten auch offene Tätlichkeiten dazu. Eli: „Natürlich ist mir das auch schon passiert. Irgendeiner beschimpft dich, einfach weil du ein Jude bist. Ein Jude ist das perfekte Opfer. Wir kämpfen nicht, wir ballen höchstens die Faust im Hosensack.“
Seine Schüler, die während der Unterhaltung im Hof Ball gespielt haben, können das Ende des Gesprächs kaum abwarten. Der große Fotoapparat des Besuchers hat sie in den Bann gezogen. Viele Gesprächspartner wollten unter keinen Umständen fotografiert werden. Roy Ackerman, der Produzent von „Volvo City“, berichtete, dass er vier Jahre brauchte, ehe er genug Vertrauen gewonnen hatte, um seinen Film drehen zu können. Die Kinder hingegen können kaum warten: „Und wenn mein Foto veröffentlicht wird, werde ich dann ein Star?“, fragen sie. „Ja, wenn du still hältst, dann wirst du damit sicher berühmt.“ – „Dann muss ich aber noch meinen Freund dazuholen.“ So entsteht in Windeseile ein Gruppenfoto. Es sind erst die Kinder, die eine Ahnung davon vermitteln, was dem Besucher in dieser fremden Welt alles verborgen bleibt. Sie lachen und balgen sich, das Gewicht der Welt lastet noch nicht auf ihnen. Für Chassidim gilt der Auftrag: „Es ist ein Gebot von entscheidender Wichtigkeit, immer fröhlich zu sein.“ Für uns andere aber gilt das Talmud-Wort: „Es ist dir nicht gegeben, die Aufgabe zu vollenden; doch ebenso wenig steht es dir zu, davon abzulassen.“