Sowjetbürger, Religionsgemeinschaft, nationale Minderheit

Die Choralsynagoge in Samara, der Millionenstadt an der Wolga, wurde 1908 errichtet. 1929 wurde sie von der Sowjetregierung geschlossen. Das Gebetshaus dienste danach als Kulturzentrum und später als Brotfabrik. ©SERGEI PRASOLOV/WIKIMEDIA COMMONS/CCBY-SA 4.0

Mit dem Sturz des zarischen Regimes begann für die jüdische Bevölkerung im Russischen Imperium eine neue Epoche. Denn die Zaren hatten in dem Ruf gestanden, mit dem aggressiven Antisemitismus in Russland zu sympathisieren. Ein historischer Überblick über die wechselvolle jüdische Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert.

VON FRANK GRÜNER

In den ersten Monaten nach dem Sturz des Zaren im März 1917 blieb völlig unklar, was die Zukunft für die jüdische Bevölkerung bringen würde. Zwischen 1870 und den frühen 1920er Jahren verließen fast drei Millionen Juden Osteuropa, der Großteil von ihnen emigrierte aus dem Russischen Imperium beziehungsweise aus Sowjetrussland und dem Ende 1918 wiedergegründeten Polen. Aber auch für die in Russland verbliebenen Juden waren die ersten Jahre unter sowjetischer Herrschaft nach Revolution und Bürgerkrieg vielfach mit Migration – und zwar in die Großstädte des Landes wie Kiew, Charkow, Leningrad oder Moskau – und mit erheblicher sozialer Mobilität verbunden.

Für die Politik der neuen Machthaber spielte eine nicht unerhebliche Rolle, dass die Bolschewiki die Besonderheit des osteuropäischen Judentums als einer sowohl ethnisch-nationalen als auch religiös-kulturell geprägten Bevölkerungsgruppe ideologisch nicht einordnen konnten. Der Religionsphilosoph Martin Buber hat in diesem Kontext einmal von der „atypischen“ Existenzform der Juden gesprochen, die im engeren Sinne weder als ethnische Gruppe noch als Nationalität, sondern als eine aufgrund ihres historischen Sonderschicksals „eigentümliche dynamische Verbindung von Nation und Religion“ zu fassen sei. Trotz unterschiedlicher ideologischer Standpunkte waren sich Lenin und Stalin in ihrem grundsätzlichen Ziel der Assimilation der jüdischen Bevölkerung einig.

Unter dem bolschewistischen Regime

Doch einerseits verwehrte das Regime den Juden den Status einer Nation ebenso wie eine autonome nationale Kultur und bekämpfte ihre Religion und Tradition; andererseits förderte der Sowjetstaat in den 1920er Jahren die Verbreitung der jiddischen Sprache und den Aufbau einer proletarischen jüdisch-säkularen Kultur. Letzteres war freilich nur eine vorübergehende, taktisch motivierte Maßnahme und diente der ideologischen Durchdringung der jüdischen Bevölkerung mit den Ideen des Sozialismus. Das eigentliche Ziel bolschewistischer Judenpolitik, also die vollständige Assimilation und Integration der Juden in die neu zu schaffende Sowjetgesellschaft, wurde zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt. Die bolschewistischen Führer betrachteten die jüdische Religion als ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zur Assimilation. Zugleich waren sie davon überzeugt, dass die Religion im Zuge des politischen und sozioökonomischen Umbaus der sowjetischen Gesellschaft rasch an Bedeutung verlieren würde. Nachdem sich die Erfolge mit Blick auf das „Verschwinden“ der jüdischen Religion aber nicht so schnell und umfassend einstellten, wie das die Sowjetführung erwartet hatte, verfolgte das stalinistische Regime seit dem Ende der 1920er Jahre eine Politik, die von einer bis dahin beispiellosen Verschärfung der Repressionen gegen jüdische religiöse Institutionen und Bräuche gekennzeichnet war.

Wie sich die etwa 2,7 Millionen Juden ihrerseits gegenüber dem bolschewistischen Regime positionierten, hing maßgeblich von ihrem Bildungsstand sowie von ihrer religiösen und weltanschaulichen Haltung ab. Mit Blick auf die 1920er und 1930er Jahre lässt sich die heterogene jüdische Bevölkerung in der Sowjetunion zumindest in drei größere Gruppen unterscheiden:

Als größte Gruppe lassen sich Sowjetbürger jüdischer Herkunft verstehen, die sich kulturell assimiliert hatten und in der jeweiligen russischen, ukrainischen oder weißrussischen Mehrheitsbevölkerung kaum mehr als Juden auszumachen waren; viele von ihnen lebten in größeren Städten, waren mit nicht-jüdischen Sowjetbürgern verheiratet und hatten eine nur schwach ausgeprägte oder gar keine Beziehung zur jüdischen Religion und Kultur. Eine zweite Strömung bildeten die Juden, die jüdische Tradition und Religion auch unter den Bedingungen des Sowjetregimes als wesentlichen Bestandteil ihres Alltags betrachteten; aufgrund der antireligiösen Politik der Bolschewiki mussten sie religiöse Aktivitäten in der Regel im Verborgenen praktizieren. Eine dritte Gruppierung schließlich umfasste diejenigen Juden, die sich als Anhänger des bolschewistischen Regimes von jüdischer Tradition und Religion losgesagt hatten und eine säkulare jiddische Sowjetkultur propagierten. Vor allem unter ihren prominenten Vertretern, den Repräsentanten der jiddischen Intelligenz, war eine explizit jüdisch-kulturelle Identität vorherrschend, die mitunter auch nationale Züge trug. Die Anhänger der sowjetisch-jiddischen Kultur repräsentierten keine Massenbewegung, doch waren sie innerhalb des großstädtischen Kulturbetriebs sowie in Partei und Staat prominent vertreten. Insbesondere die Aktivisten der jüdischen Parteisektionen trugen bis zu deren Auflösung 1930 maßgeblich zur Umsetzung des bolschewistischen Programms unter der jiddischsprachigen Sowjetbevölkerung bei und waren nicht zuletzt wegen ihres rigiden Vorgehens gegen jüdische Religion und Tradition in der jüdischen Bevölkerung gefürchtet. Ironischerweise hatte es die jiddische Sowjetintelligenz dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion beziehungsweise dem Zweiten Weltkrieg zu „verdanken“, dass sie noch einmal für wenige Jahre in der Kriegs- und Nachkriegszeit eine Rolle spielen sollte. Es waren die folgenden „schwarzen Jahre“ des sowjetischen Judentums zwischen 1939/41 und 1953, welche die Frage nach der Stellung und Zukunft der Juden im Sowjetstaat neu auf die Agenda setzten. Bis zu diesem Zeitpunkt lässt sich die Mehrheit der etwa drei Millionen jüdischen Sowjetbürger als weitgehend in das sowjetische System integriert bezeichnen.

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Judentum nach nicht einmal einem Vierteljahrhundert Sowjetherrschaft von Grund auf verändert. Als eine überdurchschnittlich gut gebildete, großteils städtisch-moderne und in die neu entstandene Sowjetgesellschaft integrierte Bevölkerungsgruppe hatten die Juden in beachtlichem Maße am gesellschaftlichen Umbau unter dem bolschewistischen Regime partizipiert. Für viele sowjetische Juden, besonders der jüngeren Generation, stellte die Entwicklung vom „Schtetl-Juden“ zum modernen „Sowjetmenschen“ eine Erfolgsgeschichte dar. Das galt ohne Frage nicht für alle Gruppen der jüdischen Bevölkerung im selben Maße; vor allem für die religiösen, der traditionellen jüdischen Lebensweise verhafteten Bevölkerungsteile hatte der erzwungene Umbau der Gesellschaft unter dem Sowjetregime umfassende Diskriminierungen mit sich gebracht.

Weltkrieg und Holocaust

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bildeten auch für die Juden auf sowjetischem Territorium die entscheidende Zäsur in dem an Umbrüchen und exzessiver Gewalt reichen 20. Jahrhundert. Mit der gewaltsamen Besetzung und dem „Anschluss“ Ostpolens, der baltischen Staaten sowie der Nordbukowina und Bessarabiens, die in den Jahren 1939 bis 1941 als Konsequenz aus der im deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag („Hitler-Stalin-Pakt“) vom August 1939 beziehungsweise in dessen geheimem Zusatzprotokoll fixierten territorialen Aufteilung Mitteleuropas erfolgten, gerieten schätzungsweise zwei Millionen Juden neu unter sowjetische Herrschaft. Diese im Unterschied zu den sowjetischen Juden insgesamt noch vergleichsweise stark in jüdischem Brauchtum verwurzelten Juden waren unter den neuen Machthabern den radikalen und brutalen Maßnahmen des stalinistischen Regimes ausgesetzt. Noch dramatischer wirkten sich für die Juden der im Juni 1941 beginnende Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion aus. Von den rund fünf Millionen Juden auf dem Gebiet der Sowjetunion wurden von 1941 bis 1945 insgesamt etwa 2.825.000 Menschen im Holocaust getötet, die meisten von ihnen, etwa 1.430.000 Personen, in der Ukraine, etwa 810.000 in Weißrussland, 215.000 bis 220.000 in Litauen, 144.000 bis 170.000 in der Russischen Sowjetrepublik, etwa 130.000 in Moldawien, 75.000 bis 77.000 in Lettland und etwa 1000 Personen in Estland.

Ein Sieg der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich war für die sowjetischen Juden faktisch die einzige Hoffnung auf Überleben. Entsprechend stark engagierten sie sich in der Armee und im Widerstand. Diese hohe Identifikation mit der Roten Armee konnte mit Kriegsende aber zunehmend weniger verdecken, dass Teile der Sowjetbevölkerung mit dem deutschen Besatzungsregime kollaboriert und sich an antijüdischen Verbrechen beteiligt hatten, wie dem Massaker von Babi Jar/Babyn Jar (russ./ukr.) bei Kiew. Auch hatte die antisemitische Propaganda des Besatzungsregimes in der Sowjetunion Wirkung gezeigt, sodass auch nach dem Sieg der Sowjetunion über Hitler-Deutschland antijüdische Einstellungen virulent blieben. Das stalinistische Regime forcierte in den 1940er und 1950er Jahren eine Politik der Verschleierung des Holocausts auf sowjetischem Boden und unterdrückte den Wiederaufbau jüdisch-gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetunion. Das Gedenken der jüdischen Tragödie sollte nach dem Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland offensichtlich nicht die neue sowjetische Meistererzählung von der unverbrüchlichen Einheit der Sowjetvölker und ihrem heldenhaften antifaschistischen Widerstand im „Großen Vaterländischen Krieg“ infrage stellen.

Enttäuschte Nachkriegshoffnungen

In der jüdischen Bevölkerung entwickelte sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das für die Nachkriegsjahre bestimmend werden sollte. Waren in den Kriegsjahren vor allem die Verbrechen im Zuge der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik im Zentrum der jüdischen (Selbst-)Wahrnehmung gestanden, kam mit Kriegsende der Antisemitismus der sowjetischen Bevölkerung als weiteres Bindeglied hinzu.

Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatten sich mit Unterstützung der Sowjetführung eine Reihe einflussreicher Vertreter der sowjetisch-jüdischen Intelligenz zu einem Antifaschistischen Komitee zusammengeschlossen. Unter dessen 63 Gründungsmitgliedern befanden sich bekannte Schriftsteller wie Wassili Grossman, Abraham Sutzkewer und Ilja Ehrenburg, prominente Persönlichkeiten aus Musik, Theater, Kritik, Journalismus, Wissenschaft, Medizin sowie hochrangige Militärs und Politiker. Zu ihrem Vorsitzenden wählten sie den populären Schauspieler und Leiter des Moskauer Jüdischen Theaters, Solomon Michoels, der das Komitee bis zu seiner Ermordung durch den sowjetischen Geheimdienst im Januar 1948 leitete. Erklärtes Ziel war es, sowohl die jüdische Bevölkerung in der UdSSR als auch die Weltöffentlichkeit vom heldenhaften antifaschistischen Widerstand der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland zu überzeugen und durch die Mobilisierung ausländischen Kapitals die Rote Armee materiell zu unterstützen.

In tausenden von Briefen wurde dazu aufgefordert, materielle und moralische Unterstützung für jüdische Sowjetbürger zu leisten. Zweifelsohne rechneten viele Juden aufgrund ihres engagierten antifaschistischen Kampfes mit besonderer Rücksichtnahme des Regimes nach dem Ende des Krieges – eine Annahme, die sich schon sehr bald als folgenschwerer Irrtum erweisen sollte.

Zwei Initiativen sollten schließlich das Schicksal dieser Einrichtung besiegeln und dem stalinistischen Regime als Anlass für eine antisemitische Orientierung seiner Politik dienen: Zum einen der in einem Memorandum an Stalin formulierte Vorschlag des Vorsitzenden des Komitees, eine jüdische Republik auf der Krim zu gründen, und zum anderen die von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman in Angriff genommene Herausgabe einer Dokumentensammlung über den Genozid an der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion, die später als „Schwarzbuch“ bekannt wurde. Während das Krim-Memorandum dem stalinistischen Regime den Vorwand lieferte, dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee als „Teil einer weltweiten zionistischen Verschwörung“ den Prozess zu machen, weil es angeblich zusammen mit den Feinden der Sowjetunion die Loslösung der Krim von der Sowjetunion zum Ziel gehabt habe, machte die sogenannte Schwarzbuch-Affäre deutlich, dass die Vertreter des Jüdischen Komitees durch ihre geplante Dokumentation der Verbrechen an den Juden auf dem Territorium der Sowjetunion dem Stalin-Regime auf geschichtspolitischem Terrain ins Gehege kamen. Besonders die Kollaboration von Sowjetbürgern mit den deutschen Besatzern bei den Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung war aus Sicht des Sowjetregimes ein unerwünschtes Thema, das grundsätzlich imstande war, die Glaubwürdigkeit der neuen sowjetischen Meistererzählung über den „Großen Vaterländischen Krieg“ und den „heldenhaften Widerstand des einmütigen Sowjetvolkes gegen die faschistische Bedrohung“ im sowjetischen Diskurs in Frage zu stellen. Eine Veröffentlichung des „Schwarzbuchs“ wurde verhindert. Die damit zum Ausdruck kommende fehlende Bereitschaft der sowjetischen Führung, die Vernichtung der Juden als ein besonderes Phänomen anzuerkennen und ein Gedenken der jüdischen Opfer zumindest in der jüdischen Öffentlichkeit in begrenztem Umfang zu tolerieren, vertiefte die Entfremdung von Juden und Sowjetstaat.

Die antisemitische Wende in der Politik der Sowjetführung, also der Zeitpunkt, ab dem das stalinistische Regime dazu überging, den Antisemitismus in der Bevölkerung nicht nur passiv zu tolerieren, sondern ihn seinerseits als Mittel der aktiven Herrschaftsausübung einzusetzen, hatte sich um 1947/48 vollzogen und war in den Kampagnen gegen den „Kosmopolitismus“ mehr oder minder offen zum Ausdruck gekommen. Aber während die Ermordung des Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Solomon Michoels, im Januar 1948 vom sowjetischen Geheimdienst erledigt wurde und auch die Auflösung des Komitees sowie die Inhaftierung, die Verhöre und die Verurteilung seiner Mitglieder zwischen 1948 und 1952 im Verborgenen abgewickelt wurden, entfaltete sich mit den Kampagnen gegen „Kosmopolitismus“ und „Zionismus“ in der sowjetischen Öffentlichkeit ein Ausmaß an antisemitischer Hetze und Repression, das in der Sowjetgesellschaft bislang nicht vorstellbar gewesen war. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren nahm das Schicksal der Juden eine entscheidende Wendung, die weit über den Tod des Diktators Stalin hinaus wirkte und die Juden zu einer dauerhaft diskriminierten Minderheit im Sowjetstaat machte. Auch die sowjetischen Regimes, die auf die stalinistische Terrorherrschaft folgten, verwehrten den Juden eine gleichberechtigte Bürgerschaft im Sowjetstaat.

Sehnsucht nach Emigration

Das sowjetische Regime hatte den Antisemitismus in Gestalt des Antizionismus in seine Ideologie inkorporiert, und die Juden fanden sich vor dem Scherbenhaufen ihrer gescheiterten Integration in die Sowjetgesellschaft wieder. Das galt vor allem für diejenigen Sowjetbürger, die ihr Judentum praktizierten und für die Sowjetgesellschaft als Juden zu erkennen waren. Sie waren von nun an mit dem Makel des „wurzellosen Kosmopolitismus“ behaftet und wurden als eine dem Sowjetvolk fremde und an ihm angeblich „schmarotzende“ Minderheit wahrgenommen. Den Juden blieben im Grunde nur zwei Optionen: entweder eine möglichst unauffällige, nicht mehr als „jüdisch“ auszumachende Existenz – oder die Hoffnung auf Emigration.

Jüdisches Leben konnte sich auch in den 1960er und 1970er Jahren kaum mehr in nennenswertem Umfang entwickeln. Das galt auch für die Jahre des sogenannten Tauwetters unter Nikita Chruschtschow. So überrascht es auch kaum, dass Juden in politischen Funktionen stark unterrepräsentiert waren. Jiddischsprachige Publikationen blieben auf wenige Bücher und eine Zeitschrift begrenzt, jüdische Schulen gab es gar keine mehr. Im kulturellen Bereich existierten einige wenige jüdische (Laien-)Theatergruppen und Musikensembles. Das religiöse jüdische Leben bestand noch an wenigen Orten mit einer sehr begrenzten Zahl an Synagogen, Rabbinern und Gemeindemitgliedern. Darüber hinaus lancierte das Sowjetregime in den Massenmedien eine landesweite Kampagne gegen den Judaismus, die unverkennbar antisemitischen Charakter hatte.

Unter diesen Umständen gewann der Wunsch nach Emigration stetig an Bedeutung. Bereits in den 1940er Jahren hatte es in der jüdischen Bevölkerung ein kaum verdecktes Streben nach der Ausreise nach Palästina gegeben. Das war nicht zuletzt bei dem Besuch der ersten israelischen Botschafterin Golda Meir in Moskau im Oktober 1948 deutlich geworden, als sich geschätzt 50.000 sowjetische Jüdinnen und Juden vor der Moskauer Choralsynagoge versammelten und die Vertreterin des neu gegründeten jüdischen Staates euphorisch begrüßten.

Die Ausreise aus der Sowjetunion blieb lange Zeit ein Tabu und wurde auch unter Chruschtschow sehr restriktiv gehandhabt. 1954 bis 1964 konnten nur 1542 Juden die Sowjetunion auf direktem Weg in Richtung Israel verlassen. Unter Chruschtschows Nachfolger, Leonid Breschnew, stieg die Zahl der erteilten Visa ab 1965 deutlich an. Infolge des Sechstagekrieges 1967 wurde die Situation für die sowjetischen Juden aufgrund der massiven antizionistischen Propaganda zunehmend unerträglich, der öffentliche Druck für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen stieg. In den 1970er und 1980er Jahren nahm die Ausreise bereits Züge einer Massenemigration an: Von 1968 bis 1989 verließen rund 240.000 Juden die Sowjetunion, ungefähr elf Prozent der jüdischen Sowjetbevölkerung. Auch die mit den Begriffen „Perestroika“ und „Glasnost“ verbundene Reformpolitik ab 1985 vermochte das Vertrauen vieler Juden in den Sowjetstaat nicht zurückzugewinnen, obgleich sich jüdische Religion, Kultur und Wissenschaft nun wieder freier entwickelten und man zumindest in Großstädten wie Moskau, Leningrad, Minsk oder Kiew durchaus von einer neuen Blüte jüdischen Lebens sprechen konnte. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre breiteten sich indes Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Sowjetgesellschaft aus, wie sie sich nicht zuletzt in den Aktivitäten der russischen chauvinistisch-nationalistischen und radikal antisemitischen Bewegung Pamjat („Gedächtnis“) manifestierten.

Ein junger Kommunist und seine Frau aus der bergjüdischen Gemeinschaft Aserbaidschans melden 1932 ihre Heirat bei der zuständigen Sowjetbehörde an.
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Das Jüdische Museum und Zentrum für Toleranz in Moskau widmet sich der komplexen Geschichte des russischen Judentums anhand von persönlichen Zeugnissen, Archivmaterial und interaktiven Ausstellungen.
©JEWISH MUSEUM AND TOLERANCE CENTER

Auswahlbibliografie:

Il’ja Al’tman: Opfer des Hasses. Der Holocaust in der UdSSR 1941–1945. Gleichen, Zürich 2008.

Martin Buber: Die Sowjets und das Judentum. In: ders: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Köln 1963, S. 543–554.

Gabriele Freitag: Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917–1932. Göttingen 2004.

Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953. Köln, Weimar, Wien 2008.

Gennadii Kostyrchenko: Out of the Red Shadows: anti-Semitism in Stalin’s Russia. Amherst, N.Y. 1995.

Arno Lustiger: Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden. Berlin 1998.

Benjamin Pinkus: The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority. Cambridge, New York 1988.

David Shneer: Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture 1918–1930. Cambridge 2004.

Yuri Slezkine: The Jewish Century. Princeton 2004.


Frank Grüner ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte des Russischen Imperiums und der Sowjetunion sowie die Geschichte der Juden in Osteuropa.

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