Geboren als Sonia Kalisch in der Ukraine, wurde Sophie Tucker ein Superstar in Amerika. Sie eroberte den Broadway und Hollywood und ging als „Red Hot Mama“ in die Musikgeschichte ein .
VON HELENE MAIMANN
Sommer 1945. Als die ersten amerikanischen Soldaten nach Hause kamen, gingen sie zunächst einmal auf einen Drink und dann ins nächste Kino. Die Filmindustrie lief seit einem Jahr, als sich das Kriegsende abzeichnete, auf Hochtouren: Krimis. Western. Abenteuer. Melodramen. Und vor allem: Show. Kein amerikanischer Unterhaltungsfilm, in dem nicht ekstatisch Jitterbug und Boogie getanzt wurde. Einer der erfolgreichsten Filme der Saison hieß Sensations, eine Nummernrevue mit umwerfenden Streetswing- Einlagen und einigen der besten Jazzmusiker, Sänger, Comedians und Tanzperformer dieser Jahre: Cab Calloway, Dorothy Donegan, W.C. Fields, Gene Rodgers, Woody Herman. Und Sophie Tucker.
Sophie Tucker war soeben sechzig Jahre alt geworden und seit Jahrzehnten ein Superstar. Sie trat auf wie immer, hochelegant, rund und rosig (das sieht man, obwohl der Film in Schwarzweiß gedreht wurde) und wandte sich ironisch lächelnd an die vielen jungen Frauen, die da im Publikum saßen und mit ihren Verehrern Händchen hielten. In ihrem typischen Sprechgesang gab sie ihnen gute Ratschläge, denn nach drei Ehen, alle Rohrkrepierer, könne sie wohl einiges von ihren Erfahrungen abgeben. Wenn Sie vorhaben, zu heiraten, warnte sie mit erhobenem Zeigefinger, dann seien Sie smart und werden ja kein braves Hausmütterchen. Ziehen Sie sich nicht mit Schürze und Kochlöffel in die Küche zurück. Denn ich, Sophie, sage Ihnen: Besser in einem schicken Outfit hereinrauschen und küssen wie Hedy Lamarr als ihm ein tadelloses Roastbeef servieren. Keine Kuh hat je aus einem Mann ein „Wow!“ hervorgelockt. Weder kann man Küsse aufwärmen noch Knöpfe an Herzen annähen.
Feministischer Stern am amerikanischen Musikhimmel
Das war Sophies Lebensthema. Sie wusste, wovon sie sprach. Geboren als Sonia Kalisch zwischen 1884 und 1886 – die Angaben variieren, also sagen wir: 1885, vor nun hundertdreißig Jahren – während der Flucht ihrer Mutter aus der Ukraine nach Amerika, wuchs sie in Connecticut auf, zwischen Bergen von schmutzigem Geschirr und Gemüse. Das Einwandererleben in Amerika war hart, die Eltern betrieben ein koscheres Restaurant, und Sophie sah auf sich ein Leben zukommen, das sie später in My Yiddishe Momme besungen hat: „Gearbeit bei Tag, gearbeit bei Nacht, und immer a Kind gewickelt…“ Sie aber wollte auf den Broadway, „no class“, wie sie singt, „but with a yiddishe hunch“, mit einem jüdischen Gespür. Mit zwanzig ging sie nach New York und wurde wenige Jahre später zum feministischen Stern am amerikanischen Musikhimmel.
Ihr Selbstwertgefühl war ebenso überwältigend wie ihre Selbstironie. Sophie machte sich zum Subjekt ihrer Songs. Sie sang über ihre Amouren und sonstigen Katastrophen und den harten Weg nach oben als dickes, komisches, widerspenstiges Mädchen mit großer Klappe und unverhohlenem Interesse an Männern, die sie liebte, ohne sich ihnen auszuliefern. Den hübschen Mr. Tuck, einen Nichtsnutz, den sie geheiratet hatte, um aus der Restaurantküche ihrer Eltern herauszukommen, hatte sie umgehend verlassen, behielt aber seinen Namen, als Sophie Tucker, „denn Tuck hörte sich nicht gut an für eine Sängerin“.
Eine alleinstehende Frau ohne Beschützer, die selbst ihren Koffer schleppte und ihre Mieten, Kleider und Bahnkarten selbst bezahlte, war eine absolute Ausnahme. Sophie musste als „Blackface“ auftreten, als Karikatur einer schwarzen Sängerin aus dem Süden, damals ein sehr beliebtes Genre im Unterhaltungsgeschäft: Mit schwarzer Paste im Gesicht, schwarzer Perücke aus Pferdehaar, schwarzen Baumwollhandschuhen und schwarzem Abendkleid, weil sie, wie die Theateragenten fanden, zu groß, zu fett und zu hässlich war, um anders auf die Bühne gelassen zu werden. Jahrelang tourte sie die Ostküste hinauf und hinunter und sang ihre Lieder zwischen Burleskenummern, Akrobaten, Hypnotiseuren, Clowns und atemberaubend schönen, langbeinigen Tanzgirls.
Dieses Leben aus dem Koffer prägte sie, auch als sie längst ein großer Star geworden war. „Man kann nicht im Vaudeville groß werden“, schrieb sie in ihren Erinnerungen, „ohne zu realisieren, dass jeder Varietékünstler einer Gewerkschaft angehören sollte.“ Lange Reisen, um Einwochen-Verträge zu bekommen. Eine Gage, die gerade ausreichte, um in einer billigen Pension zu übernachten. Häufig setzte der Boss den Auftritt nach der ersten Show ab, was für den Rest der Woche hieß, in der Luft zu hängen. Die Theatermanager waren hartgesottene Unternehmer, die jeden Cent aus den Künstlern herausquetschten. Die hygienischen Zustände backstage waren katastrophal. Kein fließendes Wasser. Kakerlaken überall. Drangvolle Enge in den Garderoben. Vaudeville hieß für Frauen, am untersten Rand des Showbusiness auf die große Chance zu warten, immer einen Schritt vom Rotlichtmilieu entfernt mit männlichen Zudringlichkeiten rechnen zu müssen, immer knapp vor dem finanziellen Absturz.
„Spielen Sie bitte mein Lied“
Auch Sophie lebte von der Hand in den Mund. Aber sie hatte eine eiserne Konstitution und starke Nerven. Sie konnte keine Note lesen, das konnte sie nie, aber ihr Gehör und ihr Gedächtnis waren fabelhaft – kein Problem, über Nacht neue Lieder und Texte zu lernen. Sie klapperte unermüdlich die New Yorker Tin Pan Alley ab, das Zentrum der Bühnenagenturen in der 28. Straße zwischen dem Broadway und der Fifth Avenue. So genannt, weil hier ununterbrochen das blecherne Klimpern der Probeklaviere aus den Fenstern quoll. Sie wollte ein großer Broadwaystar werden und war fest entschlossen, sich weder von einem überbeschäftigten Agenten noch von einem attraktiven Schwerenöter abhalten zu lassen. Zwar war sie keine Beauty mit Ephebenfigur und schmachtendem Blick. Aber sie hatte eine milchweiße Haut und das Haupt einer Löwin, voll prachtvoller blonder Locken, auf die sie sehr stolz war. Das Erbe ihrer Vorfahren von der Krim! Sie musste es schaffen.
Dann fehlte eines Abends in Boston ihr Theaterkoffer. Er war auf dem Bahnhof hängengeblieben, und sie musste ohne Make-up und Kostüm auf die Bühne, im Straßenkleid. Wie immer war sie als Blackface angekündigt. Das Publikum raschelte erstaunt mit dem Programm. Sophie entschloss sich zu einer Erklärung: „Wie Sie alle sehen, bin ich weiß. Und dann sage ich Ihnen noch etwas: Ich komme nicht aus dem Süden. Ich bin hier aufgewachsen. Ich bin ein jüdisches Mädchen. Und diesen Südstaatenakzent habe ich nur für Blackface gelernt, zwei Jahre lang! Und nun“, wandte sie sich an den Pianisten, „spielen Sie bitte mein Lied.“ Die Leute jubelten. Das war der Durchbruch! Die Ziegfeld Follies, berühmt für ihre erotischen Shows, die den New Yorkern das Gefühl gaben, im sündhaften Paris zu sein, engagierten sie auf der Stelle.
Der Rest ist Legende. Sophie Tucker stürmte die Theater und später den Film. Sie etablierte einen unverwechselbaren Stil, eine Mischung aus Jazz, Blues und Stand-up Comedy mit ihrer kräftigen, rauchigen Stimme, ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Komik, ihren Witzen über Sex und eheliche Treue, ihren „hot songs“, die alle damaligen Tabus übersprangen, ihrem herausfordernden Lachen, ihren pompösen Auftritten mit Federschmuck im Haar und allem Drum und Dran. Ein Jahr nach ihrer Blackface-Zeit nahm die Edison National Phonograph Company zehn Songs mit ihr auf. Sie drehen sich alle um gehörnte Ehemänner und sexuell gefräßige Frauen. In My Husband’s in the City erzählt Tucker unumwunden von den Sommerfreuden einer Dame, deren Gatte im Stadtgeschäft schwitzt. In der Ragtime-Nummer That Lovin’ Soul Kiss feuert sie ihren Lover beim Küssen an, wobei klar ist, welche Küsse gemeint sind: „Sip the honey divine/ For a long time/One, two, three/ Now, longer/Four, five and six/Still longer, honey/Seven, eight, nine/Oh, oh, babe…“
Auf dem Cobenzl
1911 kam auch erstmals ihr Song Some of These Days heraus, eine souveräne Abrechnung mit jenen Kerlen, die gewissenlos über das Herz einer Frau trampeln. Ein Mix aus Zorn und Zärtlichkeit, die Proklamation einer Frau, die sich klar darüber ist, dass sie keinem Mann je erlauben wird, in ihrem Herz und ihrem Leben das Ruder zu übernehmen. Zwanzig Jahre später war sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und versprühte wunderbare Lebensweisheiten: „Wozu seufzen, warum weinen, wenn er mit dir Schluss macht? Hilf ihm seine Koffer packen, weine ihm nicht nach und renn ihm nicht nach. Geh aus und suche dir einen anderen! Denn wenn Küsse den Mann, den du liebst, nicht halten können, dann werden ihn Tränen auch nicht zurückbringen.“ Goldene Worte.
Für mich ist sie nach wie vor pures Empowerment. Ich habe Sophie Tucker im Ohr, seit ich ein Kind war. Wir hatten noch Schellacks von ihr daheim und eine 45er, mit einer imposanten Blondine auf dem Cover, Federn im Haarturm, Pelz und Schmuck. Im Radio spielten sie Lale Andersen, aber daheim schwang Sophie Tucker ihr Zepter mit dem Swing der zwanziger und dreißiger Jahre , mit The Man I Love, Aren’t Women Wonderful und Red Hot Mama.
In den Siebzigern fand ich ihre Erinnerungen in einem Londoner Antiquariat. Darin schildert sie ihre Europatournee von 1932. Sophie war bereits ein internationaler Star, als sie in einem Plattengeschäft in Wien erkannt und bestürmt wurde, My Yiddishe Momme zu singen. „In weniger als fünf Minuten war das Geschäft voll und die Straße draußen schwarz von Menschen“, erzählt sie. „Polizisten schoben sich mit Ellbogeneinsatz durch die Menge, um herauszufinden, was los war.“ Sie sang also, nie zuvor und danach, schreibt sie, hatte sie ein derart ergebenes Publikum, und als sie einige Abende später auf dem Cobenzl dinierte, wurde sie um ihren berühmtesten Song gebeten. „Dort im Mondlicht auf der Terrasse über Wien Some of These Days zu singen, zur Musik einer Zigeunerkapelle, ist die romantischste Erfahrung meines Lebens im Show Business“, erinnert sie sich, dankbar dafür, „dass mir erlaubt war, etwas von dem Geschmack Wiens zu kosten, bevor sein Geist unter den Nazistiefeln zerstampft wurde.“ Wenige Jahre später wurden Tuckers Platten aus den Wiener Plattengeschäften geholt und zerschlagen, ihr Verkauf verboten.
Ein Popstar der ersten Stunde
Sie hat ihre Jüdischkeit nie verborgen, aber sie sah weit über die Grenzen ihrer Herkunft hinaus. Sie unterstützte die Prostituierten, die ihr in den Anfangsjahren begegnet waren, die Negro Actors Guild, die Catholic Actors Guild, Jugendzentren, Hilfsfonds. Sie wurde Präsidentin der American Federation of Actors, einer Gewerkschaft, die sich um die umherziehenden Varietékünstler kümmerte. Vieler der jüdischen Kollegen ihrer Generation – Irving Berlin, George Gershwin, Eddie Cantor, Al Jolson, Fanny Brice, Benny Goodman, Artie Shaw, Irving Aaronson – hatten Amerika in ein liberaleres Land mit einer gemeinsamen kulturellen Identität verwandelt. Sophie Tucker war die radikalste unter ihnen. Ihre Performance entwickelte sich zu einer komplexen Kritik der Standards von Gender, Klassen, Moral, Humor, Sexualität und ethnischer Segregation.
Sie war ein Popstar der ersten Stunde. Sie hat viele große Frauen des Showbiz beeinflusst, von Mae West über Judy Garland, Bette Midler und Barbra Streisand bis zu Lady Gaga. Keine andere hat so viele Spitznamen eingesammelt wie sie: The Empress of Songs, Our Lady Nicotine, The Grizzly Bear Girl, The Queen of Jazzaration, King Size Lollobrigida und natürlich Red Hot Mama. Als sie 1966 starb, kamen Tausende zu ihrem Begräbnis auf den jüdischen Friedhof in Wethersfield, Connecticut, und die Gewerkschaft der Hearse Drivers, der Fahrer von Leichenwagen, unterbrach ihr zu Ehren einen Streik.