Das Tagebuch der ehemaligen Patientin Anna G. gibt Einblicke in die Behandlungsmethode des Vaters der Psychoanalyse.
Von Herbert Voglmayr
1988 wurde bei einer Hausräumung in Zürich ein Tagebuch gefunden, das in Psychoanalytikerkreisen für eine kleine Sensation sorgte. Es stammt von der jungen Ärztin Anna G. aus Zürich, die von April bis Juli 1921 nach Wien kam, um sich bei Sigmund Freud einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen. Anlass dafür war eine tiefe Beziehungskrise, weil sie vor der Hochzeit mit ihrem langjährigen Verlobten stand, jedoch in Hinblick auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm immer mehr Zweifel bekam. Sie konnte sich nicht entschließen, ihn zu heiraten, fand aber auch nicht die Kraft, sich von ihm zu lösen. Um in dieser ausweglosen Situation Klarheit zu finden, wandte sie sich an Freud und ersuchte ihn, sie als Patientin anzunehmen. Seine Schriften kannte sie schon, da sie seit 1920 am Züricher Burghölzli bei Eugen Bleuler in der Psychiatrie arbeitete und dort ihre Dissertation verfasste.
In Form eines losen Tagebuchs, bestehend aus zwei Schulheften, protokollierte sie, was sie in der Analyse bewegte. In ihren Worten wird Freuds Arbeitsweise sichtbar, kann man ihn beim Deuten beobachten, erlebt ihr Unbehagen und ihre Widerstände und erahnt ihr Unbewusstes, verpackt in ihre Träume. Dabei blitzen zwischen den Zeilen auch immer wieder Witz und Selbstironie auf. Einmal weist Freud mit der Bemerkung: „Sie streifen so nah am Geheimnis des untersten Stockes, dass ich es Ihnen verraten kann“ darauf hin, dass das starke Zögern bezüglich einer Heirat mit ungelösten familiären Beziehungen zusammenhängen könnte. Damit eröffnet er einen Weg der Entwicklung, der am Ende im Leben von Anna G. und ihrer Umgebung große Veränderungen auslösen wird.
Anna Koellreuter, die Enkelin von Anna G. und selbst Psychoanalytikerin, zögerte lange, das Tagebuch ihrer Großmutter zu veröffentlichen, weil es sich dabei um ein intimes persönliches Dokument handelt. Außerdem war sie sehr aufgewühlt von dem Fund, der eine Art Familiengeheimnis lüftete. Es war zwar allen Familienmitgliedern bekannt, dass die Großmutter bei Freud in Analyse war, deren Mitteilungen darüber waren aber äußerst spärlich. Als Studentin hatte Anna Koellreuter einige Jahre bei ihrer Großmutter gewohnt, die großes Interesse an der Ausbildung der Enkelin zur Psychoanalytikerin zeigte, aber nie über ihre Analyse bei Freud sprach.
Da das Tagebuch auch von wissenschaftlichem Interesse ist, gab sie es Fachleuten zur Beurteilung. 2007 hielt sie darüber in Tübingen einen Vortrag vor psychoanalytischem Fachpublikum und löste damit eine enorme Resonanz aus. Es kam anhand des Tagebuchs eine Diskussion über Freuds Arbeitsweise in Gang, die dann 2009 zur Publikation führte. Der Titel „Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?“ stammt übrigens aus einem Brief des Vaters, der sich zunehmend Sorgen um seine in Wien weilende Tochter machte, die mit fortschreitender Analyse immer weniger von sich hören ließ. Das Buch enthält neben dem Tagebuch noch eine Reihe psychoanalytischer und historischer Kommentare und ist für psychoanalytische Laien ebenso interessant wie für Fachleute, weil es einerseits anhand des Tagebuchs ermöglicht, Freud bei der Arbeit quasi über die Schulter zu schauen und andererseits anhand der Kommentare einen guten Überblick gibt über die Weiterentwicklungen der Psychoanalyse seither und wie sich die heutige Praxis von der klassischen Arbeitsweise Freuds unterscheidet.