Die Shoa zu überleben hat Juden weniger traumatisiert, als „stark, eigensinnig und machtvoll“ gemacht – das sagt die Historikerin Hanna Yablonka.
VON LUKAS WIESELBERG
NU: Shoa-Überlebende haben schreckliche Dinge erlebt, waren traumatisiert. Heute würde man sagen: Sie hätten Hilfe gebraucht, körperliche und seelische Therapie – haben sie die bekommen, in Israel oder anderswo?
Hanna Yablonka: Ich denke, sie haben die Hilfe gar nicht benötigt. Insgesamt sind rund 500.000 Shoa-Überlebende nach Palästina bzw. Israel gekommen. Die meisten von ihnen waren jung, zwischen 15 und 44 Jahren alt. Natürlich hatten sie Traumatisches erlebt. Sie waren aber nicht so traumatisiert, wie Sie es andeuten.
Nur ein Beispiel aus Europa: In den Lagern für „Displaced Persons“ in Deutschland und Österreich gab es in den Jahren des Babybooms die höchsten Geburtsraten weltweit. Das war eine Art biologische Rehabilitation. Sie waren nicht traumatisiert, sondern sie haben beschlossen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, mit großer – auch spiritueller – Kraft.
Wie ist es den Überlebenden in Israel ergangen?
Zum Kontext: Der Unabhängigkeitskrieg 1948 war der härteste Krieg, den Israel je gefochten hat. Es gab damals 600.000 Juden in dem Land, die Hälfte von ihnen waren neue Immigranten. 6.000 von ihnen starben in diesem Krieg, 1.800 davon waren Shoa-Überlebende, die die Hälfte der Streitkräfte ausmachten. Es war ein weiterer Überlebenskampf: Wenn Israel den Krieg verloren hätte, wäre der Staat nicht entstanden. Die oberste Priorität war deshalb, den Krieg zu gewinnen oder zumindest zu überleben. Jetzt können Sie mich fragen: „Wow, jemand hat Auschwitz überlebt und muss dann gleich wieder in einen harten Überlebenskampf ziehen. Das ist doch eine große Tragödie!“ Ja, das ist sie in der Tat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass viele von ihnen freiwillig in diesen Kampf gegangen sind. Der Zweite Weltkrieg hat sie zu dem Schluss gebracht, dass die Juden ermordet wurden, weil sie kein eigenes Land hatten. Niemand hatte sich um sie gekümmert, und deshalb mussten sie das jetzt selbst tun.
Welchen Stellenwert hatte Israel für die Überlebenden?
Der Staat war so etwas wie eine religiöse Erlösung. Die Überlebenden gaben deshalb alles, was sie hatten, um Israel aufzubauen: die Siedlungen, die Kultur, die Armee. Für sie war Ben Gurion der Vater der Nation, und ich würde auch sagen: wie der heilige Moses. Ich habe das in vielen Dokumenten gelesen, die sie geschrieben haben – mit dem Schiff anzukommen und Haifa zu sehen war eine religiöse Erfahrung, obwohl viele von ihnen gar nicht religiös waren.
Das hatte viel mit den Demütigungen in der Shoa zu tun, und nun hatten sie das Gefühl von Aufbruch und Kompensation. „Wir verdienen dieses Geschenk“, haben sie gesagt. Die meisten von ihnen würden heute – so wie meine Mutter – vermutlich sagen: „Okay, der jüdische Staat ist nicht so geworden, wie wir ihn erträumt hatten, aber er ist noch immer ein Traum und immer noch wert, für ihn zu kämpfen – nicht nur militärisch, auch kulturell und moralisch –, denn du weißt nicht, was es bedeutet, keinen Staat zu haben.“
Wie geht man als Gesellschaft mit hunderttausenden Flüchtigen um, die gerade einen industriellen Massenmord überlebt hatten?
Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil haben die Überlebenden sofort darüber gesprochen – von der Minute an, in der sie aus den Lagern gekommen sind. Beim Zuhören war aber nicht klar, ob man diese schrecklichen Geschichten glauben sollte. Es hat Zeit gebraucht, um das zu verstehen, und das ist erst mit dem Eichmann-Prozess geschehen. Davor galten die Überlebenden als „Schafe im Schlachthof“, weil sie sich nicht gewehrt hatten. Nach dem Eichmann- Prozess wurden sie zu „heiligen Schafe“, wie ich das ein wenig zynisch nenne. Was sich geändert hat, war erstens, dass die Shoa nun auf der europäischen Ebene erzählt wurde. Bis dahin gab es vereinzelte, lokale Erzählungen – aus Warschau, Prag oder Lwiw. Und zweitens haben die Israelis die Gesichter gesehen, die von den Ereignissen erzählt haben. Es hat eine Art Privatisierung der Shoa stattgefunden. Plötzlich haben die Israelis ein Wissen um die Shoa entwickelt, und das hat alles geändert.
Inwiefern?
Die Überlebenden sind die einzige Gruppe in Israel, die sich einig ist – sonst wird über alles gestritten. Knappe 40 Prozent von ihnen haben von Deutschland zwischen den späten 1950er-Jahren und 1965 Entschädigungszahlungen erhalten. Die meisten von ihnen haben das Geld nicht verwendet, um den eigenen Lebensstandard zu heben, sondern in die Ausbildung ihrer Kinder investiert.
Die Überlebenden waren meist sehr erfolgreich, sie nahmen Einfluss auf Gesetze und wurden auf vielen Ebenen zum Rückgrat des Staates: politisch, kulturell, akademisch und ökonomisch. Sie waren nicht unglücklich oder verrückt, sondern stark, eigensinnig und machtvoll. Und sie haben nicht erwartet, dass ihnen geholfen wird.
Was ist mit dem „Schuldgefühl der Überlebenden“, das viele Menschen nach traumatischen Erlebnissen haben? Haben darunter nicht auch Holocaust- Überlebende, die nach Israel gekommen sind, gelitten?
Was Sie als „Schuldgefühl der Überlebenden“ bezeichnen, nenne ich „Schuldgefühl der Opfer“. Und das betrifft nicht nur die Überlebenden, sondern die gesamte jüdische Welt in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg. Das ist ein sehr jüdisches Phänomen. Wenn man das mit anderen Ländern vergleicht, die von den Nazis besetzt waren: etwa Frankreich, dessen Narrativ nach dem Krieg hauptsächlich darin bestand, die Deutschen zu verurteilen und das eigene Verhalten zu heroisieren. Erst in den späten 1980er-Jahren haben sich die Franzosen mit ihrer massiven NS-Kollaboration auseinandergesetzt.
Die jüdische Welt hat in dem Versuch, diese riesige Tragödie zu verstehen, auf sich selbst geblickt. Die unmittelbare Anschuldigung bestand aus zwei Teilen. Zum einen, dass der Massenmord durch jüdische Funktionäre ermöglicht wurde, etwa den Judenräten; zum anderen, dass die Diaspora- Juden historisch schwach waren. Dazu kamen die weitverbreiteten Schuldgefühle der Juden in Palästina, den USA und anderen Ländern, die nicht unter der Nazi-Herrschaft waren – all jene, die aus Europa stammten und ihre Familien zurückgelassen hatten. Sie haben sich alle gefragt: „Was haben wir getan, um unsere Familien zu retten?“ Und die Antworten waren sehr traurig. Das Resultat war ein allgemeines Schuldgefühl, ein riesige kollektive Tortur, was sich nach dem Eichmann-Prozess erst langsam geändert hat. Aus dem „Schuldgefühl der Opfer“ wurde ein „Schuldgefühl der Mörder“.
Viele Überlebende litten unter Schuldgefühlen, sie versuchten einen Sinn aus ihrem eigenen Überleben zu ziehen. All das hat aber nichts damit zu tun, dass die Überlebenden das Leben, den Wiederaufbau und die Regeneration gewählt haben, und nicht den Sturz in die Verzweiflung. Ich glaube, dass es das Wunder ihres Überlebens verlangt hat, diesem eine gewisse Bedeutung zu geben. Diese Bedeutung haben viele in ihrer aktiven Rolle beim Aufbau des jüdischen Staates und im Schaffen neuer Familien gesehen. In gewisser Weise war das eine Verpflichtung gegenüber ihren ermordeten Familien. Man kann sagen, dass dieses Schuldgefühl tatsächlich ein mächtiger Katalysator dafür war, so positiv aktiv zu sein.
Gibt es einen Unterschied zwischen Überlebenden, die in ihre Heimatländer – so wie Österreich – zurückgekehrt sind, und jenen, die in die USA bzw. nach Israel gegangen sind?
Der wichtigste Unterschied betrifft den Umstand, dass die „Israelis“ zum ersten Mal nach 2.000 Jahren im Exil Teil der Mehrheit einer Gesellschaft waren. Das hatte eine dramatische Änderung in der Selbstwahrnehmung zur Folge. Sie wandten sich von der Vergangenheit ab und wurden Begründer eines völlig neuen Kapitels in der jüdischen Geschichte: des Kapitels jüdischer Souveränität. Das bedeutete eine grundlegende Verlagerung von all den „Krankheiten des jüdischen Lebens“ in der Diaspora.
Die „Amerikaner“ waren hingegen wieder eine Minderheit. Wegen der Stärke der Überlebenden und ihrer Entscheidung für Leben und Vitalität haben sie die Chancen ergriffen, die ihnen Amerika bot. Sie wurden eine sehr erfolgreiche Gruppe, die die amerikanische Kultur und Wirtschaft stark beeinflusst hat – sie blieb aber immer eine Minderheit.
Die „Europäer“, und damit meine ich in erster Linie die aus Ost- und Mitteleuropa, waren hinter dem Eisernen Vorhang gefangen – und dort als Minderheit sowohl dem traditionellen Antisemitismus als auch den Schrecken der kommunistischen Herrschaft ausgesetzt – man denke nur an die „Ärzteverschwörung“ unter Stalin. Außerdem lagen in diesen Ländern die Massengräber ihrer Familien und Gemeinden.
Inwieweit bestimmt die Shoa heute noch das Selbstverständnis von Israel?
Unglücklicherweise steht sie im Zentrum der nationalen Identität Israels. Sie ist der Kompass, mit dem sich viele Israelis heute in ihrer Gegenwart orientieren und mit dem sie ihre existenziellen Entscheidungen treffen. Das ist eines der größten Hindernisse, wenn es darum geht, Israel zu einem normalen Staat zu machen. Und es behindert auch den Friedensprozess mit der arabischen Welt und speziell mit den Palästinensern. Ich träume jeden Tag und jede Nacht davon, dass wir endlich in Frieden mit ihnen leben können.
Wie könnte so eine Normalisierung aussehen können?
Ganz einfach in einer Zweistaatenlösung, die den Palästinensern ihre Unabhängigkeit gibt, die sie so sehr verdienen, und den Juden die ihre, die sie genauso verdienen. Wenn die Franzosen und Deutschen ihre Beziehungen normalisieren konnten, weiß ich nicht, warum dass die Israelis und Palästinensern nicht auch tun können – vorausgesetzt, beide wenden sich von der Vergangenheit ab und denken an die Gegenwart und die Zukunft. Die Shoa ist in dieser Hinsicht ein schlechter Ratgeber.
Sie sollte also eine geringere Rolle spielen?
Absolut. Was nicht heißt, dass wir nicht an sie erinnern sollen. Für meine eigene Familie war die Shoa eine große Tragödie, ich heiße Hanna nach meinen beiden Großmüttern, die in Auschwitz ermordet wurden. Meine Kinder und ich werden deshalb bis zum Rest unseres Lebens an unsere Familie denken, und ich hoffe, die Erinnerung wird danach in der Familie weiterbestehen. Dennoch gilt: Ich erinnere mich, aber das ist nichts, woraus ich meine existenziellen Entscheidungen treffe.
Ich habe heute einen eigenen Staat und ich möchte, dass er ein normaler Teil der Völkergemeinschaft ist; ein Staat, der sich um die jungen Menschen kümmert und der für ihre Bildung sorgt. Ich möchte meine Anstrengungen einer gerechten und gebildeten Gesellschaft widmen, und das kann nicht geschehen, wenn die Shoa immer der Hintergrund ist. Die Shoa ist ein tragisches und dunkles Kapitel, an das man sich erinnern soll – aber nichts, worauf man sich immer bei den Entscheidungen der Gegenwart beziehen soll.
Das Interview ist in einer kürzeren Version auf science.ORF.at erschienen.