Wenn Sie diesen Artikel nur aufgrund seines Titel zu lesen beginnen, sind Sie schon reingefallen. Was können Schlagzeilen? Und sind Bad News immer Good News?
Von Ronni Sinai
Ich oute mich als Abonnent einer auf zartrosa Papier gedruckten, österreichischen Tageszeitung, deren Herausgeber diese seinerzeit für Menschen bewarb, die sich nicht nur Bilder ansehen, sondern auch Texte sinnerfassend lesen können und wollen. Offensichtlich ein Anspruch, der nicht selbstverständlich zu sein scheint. Dies gilt umso mehr, seit es den Informationsoverkill der mittlerweile gar nicht mehr so neuen Medien gibt. Ich versuche nun Antworten zu finden auf die Frage, welche Headlines mich zum Weiterlesen eines Artikels bewegen. So nehme ich also die heutige Ausgabe dieser Zeitung zur Hand und unterziehe mich einem Test. Dazu muss bemerkt werden, dass nichts älter ist als die Zeitung von heute, denn die meisten Informationen, die sich darin befinden, sind bereits aus Internet und Fernsehen bekannt. Diese kann ich also überspringen, so es sich nicht um einen Kommentar handelt.
„Fast ein Urlaub wie damals“
Treffer! Ich lese weiter. Es wird berichtet, dass trotz steigender Corona-Zahlen, höherer Preise, Ungewissheit usw. Hotels und Ferienwohnungen im ganzen Land durchwegs gut gebucht sind. Mein Resümee: Das Bedürfnis nach Urlaub besiegt die vom selben Medium suggerierte Angst vor einer unsicheren Zukunft. 1:0 für die Resilienz – oder Ignoranz – der Menschheit? (Der Standard)
„Wetterbericht entscheidet mehr denn je“
Auch das interessiert mich. „Der Wetterbericht entscheidet mehr denn je, ob, wann und wohin in den Urlaub gefahren wird“, so eine Hotelbesitzerin. Ja eh, aber die Wettervorhersagen sind wohl weniger relevant als die spezifischen Prognosen der Wirtschaftswissenschaft, Politik, von Virologinnen und Virologen und … Journalistinnen und Journalisten. Und ebenso unsicher wie der Wetterbericht. Gewiss ist allen diesen jedenfalls die Patenschaft des Pessimismus. Frei nach Tante Jolesch: Gott schütze uns vor allem, was noch ein Glück ist. (Der Standard)
„Hilflos im Amt”
Es handelt sich um einen Kommentar von „RAU“, der mit der vermeintlichen Unfähigkeit der Mitglieder unserer Bundesregierung abrechnet. „RAU“ verwendet dabei Begriffe wie „desaströs“, „schwachmatisch“, „katastrophal“. Trotz meiner durchaus kritischen Hinterfragung so mancher politischer Entscheidungen bekomme ich in diesem Beitrag keine Antworten geliefert. Der journalistische Wert des Kommentars erschließt sich mir also in diesem Fall nicht. (Der Standard)
„Wie sich der Klimawandel auf den Körper auswirkt”
Ich habe so viel Schlechtes über das Rauchen gelesen, dass ich mit dem Lesen aufgehört habe. Dieser Ansatz ist durchaus in Betracht zu ziehen, wenn man Recherchen etwa über den Klimawandel als Lektüre zum Frühstückskaffee studiert. Ich lese also in einer seriösen österreichischen Tageszeitung im Großformat, was er, der Klimawandel, mit meinem Körper so alles macht. Bei Temperaturen über 30 Grad, welche an immer mehr Tagen im Sommer herrschen, knickt meine geistige Leistungsfähigkeit vollends ein, wie ich hier erfahre. Die gute Nachricht: Vielleicht kann ich ja dann an Hitzetagen wenigstens Erkenntnisse dieser Art nicht mehr sinnerfassend lesen. Wie zum Beispiel auch, dass sich zudem die Asiatische Tigermücke in Europa ausbreitet, die das Zika-, Chikungunya- oder Dengue-Virus in sich trägt. Oder, dass es Zecken nun schon auch im Jänner gibt – mithilfe von Mäusen, die wiederum … na ja, Sie ahnen es schon. (Die Presse)
Chronik des Tages
Da der Mensch nicht den ganzen Tag mit dem Verzehr des Frühstücks samt zugehöriger Lektüre auskommen mag, gönnt er sich auch abends eine Mahlzeit plus Nachrichtensendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Im Durchlauf der Meldungsübersicht geht es von der verheerenden Hungersnot in einem afrikanischen Land über verunreinigtes Trinkwasser in der Gemeinde Niederhochwölz (Name von der Red. geändert) und dem Formel-1-Rennen in Spielberg inklusive randalierender Fans bzw. eines spektakulären Crashs übergangslos zum Carinthischen Sommer, der mangels Katastrophe das Bedürfnis nach Information nicht abzudecken vermag. (ZiB 1, ORF)
„Ufo-Sekte will jetzt Hitler klonen“
Diese Schlagzeile der Bild-Zeitung recherchierte ich im Web, die Printausgabe liegt mir buchstäblich fern. Wenden wir uns also im Schnelldurchlauf der Boulevardpresse zu, allerdings könnte bei zu intensivem Konsum der Frühstückskaffee wieder hochkommen. „38 Prozent aller Studentinnen sind weiblich“ oder „Diese Affenhitze – werden wir jetzt alle Afrikaner?“ Ist es gar Kalkül oder schlicht Dummheit, die hier zum Einsatz kommt? Wohltuend hingegen sind Headlines wie „Riesen-Wels aus Po gezogen“ oder „Morde: Viele Menschen wollen helfen“, die man sich nebst Kipferl sprichwörtlich im Mund zergehen lassen kann. (Bild)
Halbleeres Glas
Der Journalist Wolfgang Wiedlich schrieb in einem Beitrag über den am 2. Juni in der Erdatmosphäre verglühten Asteroid 2018 LA: „Ein sichtbarer Feuerball, der es schwer hatte, in die Schlagzeilen zu kommen, schließlich hatte er keinen Schaden verursacht.“ Schon Erich Kästner bemerkte in Emil und die Detektive: „Wenn ein Kalb vier Beine hat, so interessiert das natürlich niemanden. Wenn es aber fünf oder sechs hat, so wollen das die Erwachsenen zum Frühstück lesen. Wenn Herr Müller ein anständiger Kerl ist, so will das niemand wissen. Wenn Herr Müller aber Wasser in die Milch schüttet und das Gesöff als süße Sahne verkauft, dann kommt er in die Zeitung.“
Sind also tatsächlich Bad News immer noch Good News? Der Medienpsychologe Peter Vitouch findet die Antwort in der evolutionären Psychologie: Steinzeitmenschen hätten nur dann überlebt, wenn sie auf Bedrohung fokussiert gewesen seien und bedrohungsfreie Nachrichten weggefiltert hätten. Dieses Verhalten hat sich, trotz schon lange nicht mehr existenter Bedrohungen, in knapp zwei Millionen Jahren im menschlichen Gehirn offensichtlich manifestiert.