Die beliebte Zwillingsformel „Sex & Crime“ ist nun auch Thema des „Jüdischen Almanachs“. Da dürfen Geschichten aus der jüdischen Unterwelt ebenso wenig fehlen wie „Kosher Nostra“, Rabbiner als Ermittler und MeToo-Skandalfall Harvey Weinstein vor Gericht.
Die Bilder des ehemaligen Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, die zuletzt um die Welt gingen, sahen so aus: Ein alter, gebrechlicher Mann in Handschellen humpelt seiner Gerichtsverhandlung wegen sexuellen Missbrauchs, Vergewaltigung, sexueller Nötigung und krimineller Handlungen in Verbindung mit Sex entgegen.
Weinsteins Sexgeschichten, die den Beginn der MeToo-Bewegung markieren, bilden einen erzählerischen Baustein des aktuellen Jüdischen Almanachs, der sich in seiner jüngsten Ausgabe um Verbrechen und Sex dreht. Die Beiträge reichen von persönlichen Erfahrungen der Autoren über Kriminalstatistiken und -reportagen bis zur wissenschaftlichen Aufarbeitung einzelner Phänomene.
So nimmt sich Michael Wuliger in seinem Beitrag neben Weinstein auch den Finanzbetrüger Bernard Madoff vor. Anhand dieser beiden Fälle erläutert Wuliger, dass Scham und Bestürzung über Verbrechen von Juden in der Diaspora umso größer sind, wenn es sich um Taten handelt, die judenfeindlichen Stereotypen entsprechen. Erfahrungen einer zweitausend Jahre lang verfolgten Minderheit habe einen Angstreflex erzeugt, möglichst alles zu vermeiden, was Antisemiten einen Vorwand liefern könnte. Seine Schlussfolgerung: „Nach allen Statistiken der Kriminologie sind Madoffs und Weinsteins Taten nicht spezifisch jüdisch. Spezifisch jüdisch ist die Angst, sie könnten von Nichtjuden so gesehen werden. Genauer: Sie ist spezifisch Diaspora-jüdisch. Auch in Israel hat die Tatsache, dass Madoff und Weinstein Juden sind, natürlich für besonderes Interesse an ihren Fällen gesorgt. Die Aufmerksamkeit war allerdings vor allem voyeuristischer Natur. Angstbesetzt, wie in den USA, war sie nicht.“
Besondere Mischung
Die Herausgeberin Gisela Dachs, Jahrgang 1963, Autorin und Journalistin, lebt in Tel Aviv und schreibt u. a. für Die Zeit. Ihr Buch beginnt mit der Feststellung, „dass Juden in der Diaspora eine geringere Kriminalitätsrate aufweisen als die Durchschnittsbevölkerung der Länder, in denen sie leben“. Ihr aus 19 Essays bestehender Almanach beweist, dass es trotzdem genügend Fälle zu diesem Thema gibt, sowohl was die kriminellen Aktivitäten von Juden in der Diaspora betrifft, als auch jene, die Kriminalisten in Israel beschäftigen. Kontroversen und Widersprüche werden sichtbar, zum Beispiel, wenn es um patriarchale Strukturen in der jüdischen Kultur geht.
Hinter der fast schon abgegriffen anmutenden Zwillingsformel „Sex & Crime“ eröffnet sich eine große Bandbreite an aktuellen Themen, relevanten Fragen und überraschenden Antworten. Die Autorinnen und Autoren nähern sich den Fragen nach Sex, Crime und deren Kombination mal persönlich, mal wissenschaftlich, mal mit Bezug auf Literatur, Fernsehen und Film, mal aus juristischem, mal aus theologischem Blinkwinkel. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Perspektiven ergeben eine ganz besondere Mischung. In einem Teil der Texte geht es um jüdische Gangsterbanden, Rabbiner als Detektivfiguren – und letztlich auch um jüdisches Recht: Die bisweilen von unserem Recht abweichenden Grundsätze bei der Strafverfolgung von Schwerverbrechern werden mit Blick auf das jüdische Rechtssystem mit seinen mehr als 3000 Jahren Geschichte erläutert. So beschäftigt sich etwa Robert Rockaway, emeritierter Professor der Tel Aviv University, in seinem Essay mit den USA der 1930er Jahre und der „Kosher Nostra“. Sein Beitrag basiert auf seinen Recherchen für sein Buch But He Was Good to His Mother: The Lives and Crimes of Jewish Gangsters, in dem er beschreibt, wie das FBI im Jahr 1933 jüdisch-amerikanische Gangster daran hinderte, den Lauf der US-Geschichte zu beeinflussen.
Andere Beiträge sind der bekannten Sexualtherapeutin Ruth Westheimer und dem Mitbegründer der Sexualwissenschaft Magnus Hirschfeld gewidmet. Sie suchen nach Antworten auf die Frage, ob das Judentum die Sexualität befreit oder unterdrückt. Als Beispiel wird unter anderem die israelische Serie Eis am Stiel herangezogen, die auch zur Aufklärung einer ganzen Generation österreichischer und deutscher Jugendlicher beigetragen hat. Man erinnert sich: Notgeile Jugendliche und barbusige Nymphomaninnen buhlten viele Folgen hindurch um die Aufmerksamkeit der Zuschauer – nicht nur der gleichaltrigen. Die leicht anrüchige Siebziger- und Achtzigerjahre-Softsex-Reihe wurde zum Quotenhit.
Die einzelnen Beiträge sind in Stil, Thema und Herangehensweise so heterogen, dass man fast meinen könnte, sie seien lediglich durch den Buchtitel verklammert. Aber das vermeintliche Durcheinander hat Methode. Verbrechen und Sex zählen zu den intimsten Themen eines Menschen, ja, einer ganzen Gesellschaft. Darüber zu schreiben bedeutet, sich mit der Verfasstheit einer Kultur zu beschäftigen, ihre bewussten wie uneingestandenen Ängste, ihre Tabus und Werte zu hinterfragen.
Krimis und Schund
Für den Autor Dror Mishani ist die Kriminalliteratur ein wichtiges, wenn nicht überhaupt das wichtigste Medium der Sozialkritik, die nicht nur die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit bewusst macht, sondern auch gesellschaftliche Strukturen und deren Abweichungen. Er geht in seinem Essay der Frage nach, warum es so wenige Krimis auf Hebräisch gibt. Seine Antwort: Das Heldenbild der israelischen Literatur wäre nicht mit der polizeilichen Realität Israels kompatibel. Der idealtypische Held sei in der Regel ein Mann mit europäischen Vorfahren, die dem Holocaust entkommen seien; der Held selbst habe in der Armee in einer der Eliteeinheiten gedient und sei später dem Mossad beigetreten: „Leider kann die Hauptfigur in einem realistischen Krimi in Israel diese Biografie nicht haben. Die israelische Polizei besteht seit ihren Anfängen hauptsächlich aus Mizrachim, also Israelis, die aus arabischen oder muslimischen Ländern nach Israel eingewandert und in den sozialen und kulturellen Peripherien aufgewachsen sind. Entsprechend ist in Israel das Bild von der Polizei und den Polizisten nicht glorreich.“
Ganz anders stellt sich diese Frage dem Schweizer Krimiautor Alfred Bodenheimer. Sein Ermittler ist der Rabbiner Gabriel Klein in Zürich. Dieser agiert in der Mitte der Gesellschaft, ist also mit ganz anderen Belangen konfrontiert. Doch auch bei Bodenheimer fungiert und funktioniert der Krimi als gesellschaftliches Analyseinstrument. Bodenheimer über seinen ermittelnden Rabbi Klein: „Ein Kriminalfall ist für ihn ein Symptom einer ethisch aus den Fugen geratenen Gesellschaft, das grauenhafte Fehlschlagen jeder verbliebenen Form von kommunikativem Verhalten.“
Das gilt nicht nur für literarisch hochwertige Krimis wie jene von Bodenheimer und Mishani, sondern auch für Schund- und Heftchenliteratur, wie Oded Heilbronner anhand der sogenannten „Stalag Fiction“ aufzeigt, einem Exploitation-Genre der 1950er und 1960er Jahre, das besonders in Israel erfolgreich war. Mittels expliziter Schilderungen von Sex und Gewalt in imaginierten Nazi-Lagern, den sogenannten Stammlagern („Stalags“), spiegelt es die Unsicherheiten und Ängste der israelischen Bevölkerung wider, wie mit dem Holocaust und mit dem Deutschland der Nachkriegszeit umgegangen werden könne.
Lange vor der Gründung des Staates Israel schrieb der hebräische Nationaldichter Chaim Bialik, der jüdische Staat werde nur dann ein normales Gemeinwesen sein, wenn es dort auch jüdische Diebe und jüdische Nutten gebe. Ob und wie weit diese Vorhersage eingetreten ist – zu diesem Gesamtbild kann man sich beim Lesen dieses Almanachs zumindest ein paar Puzzleteile sinngebend zusammenfügen.