Semaria Baher, Generalsekretär der jüdischen Gemeinde Beiruts, wirkt bedrückt. Man merkt ihm an, dass er wenig Lust hat, mit dem fremden Europäer zu sprechen. Gleichzeitig strahlt die Maghen-Abraham-Synagoge in der libanesischen Hauptstadt, einst als schönstes Gotteshaus im Nahen Osten gerühmt, in neuem Glanz.
VON MICHAEL J. REINPRECHT (BEIRUT)
Ich gehe zu Fuß durch die Altstadt. Erst die Hügel des christlichen Viertels Achrafiyé hinunter, wo auch die österreichische Botschaft liegt, zu den hippen Ausgeh- und Künstlervierteln Sodeco und Gemayzéh. Die meisten der schönen, alten Stadtvillen waren nach dem Bürgerkrieg liebevoll wieder aufgebaut und renoviert worden. Doch seit der Megaexplosion vom 4. August 2020, als im Hafen von Beirut 2750 Tonnen des Düngemittels und Sprengstoffrohstoffs Ammoniumnitrat explodierten, sind sie wieder stark beschädigt. Aber langsam kehrt hier wieder Leben ein. In einem Café, halb Bistro, halb Buchhandlung und ein wenig an das berühmte Caffè San Marco in Triest erinnernd, stärke ich mich. Blättere nochmals die wenigen Artikel durch, die ich zum Thema in L’Orient le Jour sowie in der Jüdischen Allgemeinen und der Times of Israel gefunden habe. Fünftausend libanesische Juden sind in den Wahllisten eingetragen, lese ich. Und doch sei bei den letzten Parlamentswahlen 2018 nur eine einzige Stimme abgegeben worden, die der Communauté israélite zugeordnet werden konnte. Also sind die anderen Eingetragenen emigriert oder nicht mehr am Leben. Karteileichen einer sterbenden Gemeinde? Ich bin unterwegs zu Semaria Baher, dem Generalsekretär der jüdischen Gemeinde der libanesischen Hauptstadt. Es sind Fragen wie diese, die ich ihm stellen möchte.
Über Twitter erfahre ich, dass eine BDS-nahe Gruppe arabischer Intellektueller eine Petition gegen Les Juifs d’Orient, die jüngste Ausstellung im Pariser Institut du Monde Arabe (IMA) unterzeichnet habe. „Das ist lachhaft, und es stimmt mich traurig“, wird der ehemalige Kulturminister und IMA-Direktor Jack Lang dazu zitiert. Was für eine Einstimmung.
Ich folge der Google Map am Handy. Die Wegbeschreibung ist einfach. Über den Freiheitsplatz, der Place de l’Etoile im Stadtzentrum, an der wiedererrichteten wuchtigen sunnitischen Blauen Moschee und der maronitischen Kathedrale St. Georg vorbei, zeigt mir das Gerät noch ein paar hundert Meter an. Aber beim Serail, dem Sitz der libanesischen Regierung, ist Schluss. Mannshohe Betonblöcke versperren den Weg. Ich frage einen Postboten nach der Wadi Abou Jamil-Straße. Unbekannt. Einen gelangweilt an einem aufgelassenen Checkpoint lehnenden Soldaten. Keine Ahnung.
Langsam arbeite ich mich in das Viertel vor. Bei einer Filiale der französischen Boulangerie-Kette „Paul“ kaufe ich noch ein frisches Croissant. Dort treffe ich auf einen Kunden, der mir weiterhelfen kann. Er habe in Deutschland gearbeitet, beginnt mir der Mann in weißem Hemd und Krawatte zu erzählen und weist mir dann den Weg: „Sie nehmen die zweite Straße links, dort ist ein Kontrollpunkt der Armee, die das ehemals jüdische Viertel absperrt. Hoffentlich sind Sie angemeldet, sonst kommen Sie nicht weiter.“
Angemeldet bin ich, aber der Soldat weiß von nichts. Ich rufe mit meinem Handy Semaria Behar an und halte dem Soldaten das Gerät hin. Ich darf passieren.
Schönstes Gotteshaus der Levante
Semaria Behar kommt mir entgegen. „No photos, no micro please“, sind seine ersten Worte. Wir tragen beide Masken. In seinem kargen Büro sitzen wir einander gegenüber. Kein Kaffee, kein Tee. Es ist, als herrsche eine unerklärliche Sprachlosigkeit. „Wollen Sie die Synagoge sehen?“ Er reicht mir eine Kippa, Behar selbst trägt eine Schirmkappe, als wir die Synagoge betreten.
Von der Regierung unterstützt, von der Hisbollah (offiziell) begrüßt und mit öffentlichen Geldern finanziert, wurde der Wiederaufbau der Maghen-Abraham-Synagoge 2010 in Angriff genommen. Bereits während der ersten Bürgerkriegsjahre Mitte der 1970er Jahre als Teil des devastierten Stadtzentrums von Beirut schwer in Mitleidenschaft gezogen, wurde das 1925 errichtete Gotteshaus Anfang der 1980er Jahre von einer Bombe getroffen und blieb fast ein Vierteljahrhundert als Bauruine stehen. Heute erstrahlt die Synagoge – einst als das schönste jüdische Gotteshaus der gesamten Levante gerühmt – in neuem Glanz.
Die Hafenexplosion allerdings hatte die Synagoge von neuem beschädigt, wie so viele Bauten hier. Kürzlich wurde die zweite Renovierung abgeschlossen. Allerdings gab es dafür kein Geld von staatlichen Stellen. Alles wurde privat finanziert: von Geldgebern der libanesischen Diaspora, von jüdischen und nichtjüdischen Spendern.
Er sei, erklärt Behar, auch Vorsteher des jüdischen Waqf, der Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinde, die ihre zivilrechtlichen Angelegenheiten (Eheschließung, Erziehung, Beerdigungen etc.) selbst zu regeln hat. Ich frage, wie groß die jüdische Gemeinde Beiruts heute noch ist.
„Es sind nur mehr wenige. Sie verstecken sich. Viele haben ihre Namen geändert, um nicht als Juden erkannt zu werden“, antwortet Semaria Behar. Man merkt ihm an, er hat so gar keine Lust, mit dem fremden Europäer zu sprechen.
Nach dem Bürgerkrieg
Wovor er Angst habe, frage ich mich. Und zu ihm sage ich: „Sicherheit wird doch großgeschrieben. Sie sind hier doch bestens bewacht.“ Das sei nicht zum Schutz, entgegnet er, „sie kontrollieren uns. Schauen Sie, die Straßenzüge, die Sie jetzt heraufgegangen sind, das war früher das jüdisch geprägte Viertel von Beirut. Es herrschte ein friedvolles Zusammenleben mit unseren moslemischen und christlichen Nachbarn. Doch das Stadtzentrum Beiruts wurde zur Kampfzone im Bürgerkrieg. Wir mussten das Viertel aufgeben. Die alten Wohnhäuser sind zerstört. Sie wurden in den Neunzigern abgerissen und wichen modernen, sterilen Wohnblocks. Es sind nur mehr wenige Juden im Libanon, ein paar Dutzend. Wir kümmern uns auch um die Friedhöfe, in Saida im Süden, in Bhamdoun in den Bergen, in Tripoli im Norden und in Beirut.“ Schweigen.
Ich frage, wie die Zukunft für die jüdische Gemeinde im Libanon aussieht. Gibt es überhaupt noch eine Zukunft? Semaria Behar gibt sich resigniert: „Es gibt keine Zukunft mehr. Es gibt keine Schule, es gibt keinen Rabbi mehr, der letzte hat Beirut während des Bürgerkrieges 1978 verlassen.“ Auch die wunderbar renovierte Synagoge sei ungenützt, weil so wenige Juden in Beirut lebten: „Es ist kaum mehr möglich, auf den Minjan, das nötige Quorum von zehn Gläubigen zu kommen, um einen Gottesdienst abzuhalten.“
Wieder liegt Sprachlosigkeit bleiern im Raum. Wir schweigen. Warum sind dann die restlichen Mitglieder der Gemeinde im Libanon verblieben, frage ich mich. „Was hält die letzten libanesischen Juden noch im Lande? Warum gehen sie nicht nach Israel?“, frage ich in die Stille. „Wir sind Libanesen. Wir bleiben Libanesen. In erster Linie Libanesen. Punkt.“ – „Und Israel?“ – „Mit Israel haben wir nichts zu tun.“
Schreiben Sie das, bitte!
Man sieht Semaria Behar förmlich an, wie unangenehm ihm das Gespräch ist. Seine weibliche Begleitung, die in Deutschland studiert hat und nun interessiert in der jüngsten NU-Ausgabe blättert, die ich mitgebracht habe, blickt auf und nickt heftig zustimmend. „Von den jüdischen Gemeinden in Europa fühlen wir uns im Stich gelassen“, schließt Behar die Unterhaltung. Um noch hinzuzufügen: „Wir brauchen Hilfe. Finanzielle Hilfe. Schreiben Sie das, bitte.“
Der hohe Funktionär der jüdischen Beiruter Gemeinde ist sichtlich erleichtert, als das Gespräch zu Ende geht. Was bleibt noch zu sagen? Irgendwie ist es trostlos. Und traurig. Die Pracht der frisch renovierten Synagoge steht in eigentümlichem Gegensatz zu dieser Traurigkeit. Das Ocker der seitlichen Bogengänge hebt sich vom Blau an der Decke ab und verleiht ihm eine gewisse Leichtigkeit. Passenderweise hat die Jüdische Allgemeine ihrem Artikel über den Wiederaufbau der Synagoge den Titel „Das Blaue vom Himmel“ gegeben. Auch der Garten, der das Gotteshaus umgibt, und die beiden hohen, eleganten Palmen vor dem Eingang zur Synagoge unterstreichen die Harmonie des Gebäudekomplexes. Aber er sieht aus wie ein Museum. Eine Weile stehe ich noch versunken vor dem Portal.
Als ich mich umdrehe und mich von Semaria Behar und seiner Begleiterin verabschieden möchte, stehen beide mit einem Besen in der Hand in einer Ecke des Vorplatzes der Synagoge und kehren Reste zusammen. Nur zögernd heben sie die Hand zum Gruß, als ich das schwere Gittertor öffne und wieder hinausschreite in die Zufahrtsstraße, welche das Viertel von dem neu errichteten Stadtzentrum der libanesischen Hauptstadt trennt.
Nur mehr wenige Schritte sind es zum Mittelmeer. In einem alten, gottverlassenen französischen Restaurant nehme ich Platz und öffne die von der Gischt salzverkrusteten Fenster zum Meer hin. Ich nehme mir einen Arak und schreibe mir Wut und Traurigkeit von der Seele.