Warum brauchen sich Juden in Tokio auf der Straße keine Sorgen vor antisemitischen Bemerkungen machen? Ein Porträt einer ausgesprochen ungewöhnlichen jüdischen Gemeinde.
Von Michael Laczynski und Christine Wurnig (Fotos)
Der Rabbi von Tokio ist ein rastloser Mann. Henri Noach wurde in Frankreich geboren, wuchs in der Schweiz und in New York auf, lebte in Israel und in Brüssel, hat einen niederländischen Pass und ist, wie er sagt, seit acht Jahren glücklich geschieden. Nun hat es den 56-Jährigen, der wie eine mindestens zehn Jahre jüngere Kreuzung zwischen Serge Gainsbourg und Robert de Niro aussieht, in die japanische Hauptstadt verschlagen. Und es scheint der absolut richtige Ort für ihn zu sein. Nicht wegen der Größe und der damit verbundenen architektonischen, kulturellen oder kulinarischen Vielfalt – mit rund 25 Millionen Einwohnern (die Angaben schwanken je nach Quelle) ist der Großraum Tokio die bevölkerungsreichste Ballungszone weltweit –, sondern aus einem anderen, viel prosaischeren Grund: „Niemand bleibt hier lange genug, um mir das Leben schwer zu machen. Die meisten Mitglieder meiner Gemeinde waren vor drei Jahren noch gar nicht hier.“ Rabbi Noach befindet sich sozusagen im Auge des Orkans, die Umgebung verändert sich unaufhörlich, und das ohne sein Zutun. Man hat fast den Eindruck, als ob ihm diese Tatsache einen großen Spaß machen würde.
Grob geschätzt 1.000 Juden leben zurzeit in Tokio. Es sind hauptsächlich gut situierte urban professionals, die in Japan einen beruflichen Zwischenstopp eingelegt haben. Die Zahl jener, die diesem Idealbild eines rastlosen Weltenbummlers nicht entsprechen, ist überschaubar. Einer von ihnen ist Ernest Salomon, ehemaliger Präsident der „Jewish Community of Japan“, der im Jahr 1950 aus Deutschland nach Tokio kam und der nach eigenem Bekunden nervös wird, wenn er zwei Wochen ohne Sushi auskommen muss. Die japanische Staatsbürgerschaft hätte er schon längst annehmen können, „aber mir reicht die Aufenthaltsgenehmigung“. Sein gesprochenes Japanisch ist exzellent, doch Lesen und Schreiben beherrscht der ehemalige Rohstoffhändler auch nach 58 Jahren nicht: Kanji, die japanischen Schriftzeichen, könne nur der lernen, der hier geboren oder als Kind nach Japan gekommen ist.
Wer in Japan lebt und nicht rein japanischer Abstammung ist, wird als gaijin bezeichnet, als „Mensch von außerhalb“. Das gilt bedauerlicherweise auch für gebürtige Japaner, deren Eltern oder Großeltern aus Korea einwanderten. Das Dasein als gaijin hat einen Vor- und einen Nachteil: Einerseits wird nicht erwartet, dass sich der Fremde an die rigiden gesellschaftlichen Normen hält, die Rolle als kleines Rädchen im großen Uhrwerk widerspruchslos akzeptiert und sein eigenes individuelles Glück hintanstellt. Andererseits kann er nie ein vollwertiges Mitglied der homogenen japanischen Gesellschaft sein. Er bleibt immer fremd. Für einen Juden hat die ganze Angelegenheit aber noch einen anderen, durchaus positiven Aspekt: In Japan wird er ausschließlich als gaijin wahrgenommen, und nicht als Jude. Man braucht sich, wie es Salomon formuliert, „auf der Straße keine Sorgen machen“. Mehr noch: Die Assoziationen, die ein durchschnittlicher Japaner mit Israel und dem Judentum verbindet, sind eine Spiegelung der in anderen Teilen der Welt vorherrschenden Stereotype. „Hier stehen die positiven Aspekte der alten Klischees im Vordergrund: Wir sind reich, wir sind clever, wir beherrschen die Welt, Sie wissen schon …“, sagt Rabbi Noach mit einem Schmunzeln. Auf den solcherart informierten Japaner scheint das Judentum eine gewisse Faszination auszuüben. Ernest Salomon erwähnt in diesem Zusammenhang eine Episode, die sich einige Jahre nach Kriegsende zugetragen hat. Dem damaligen Rabbi, einem Feldgeistlichen der US-Army, fiel auf, dass sich immer wieder Einheimische in die Synagoge schlichen und nach dem Ende des Gottesdienstes schleunigst das Weite suchten. Als er dann einen von ihnen zur Rede stellte und nach seinen Beweggründen fragte, antwortete dieser, er wolle auf diese Weise von den Juden lernen, wie man zu Geld kommt. Salomons Fazit: „Die Japaner haben eine andere Einstellung.“ Nicht Neid stehe im Vordergrund, sondern Lernbereitschaft.
Auch Übertritte zum jüdischen Glauben kommen relativ häufig vor. Während seines sechsjährigen Aufenthalts in Tokio hat Rabbi Noach mehr als 100 Japaner bekehrt, hauptsächlich Frauen, die einen jüdischen expat heiraten wollten, aber nicht nur. „Allfällige Beschneidungen werden von Dr. Fuji durchgeführt, der schon seit langer Zeit mit der Gemeinde zusammenarbeitet.“ Doch es gebe auch einen anderen Grund für die Übertritte als das individuelle Liebesglück: eine weit verbreitete spirituelle Leere. „Was den Menschen hier abgeht, ist das Gefühl, dass ihr Leben einen Sinn hat. Die Japaner sind Workaholics, die Selbstmordrate ist eine der höchsten weltweit.“ Gegen diese Leere kämpft Noach mit publizistischen Mitteln. Mehr als 30 Artikel in japanischen Zeitungen hat er bereits verfasst, er unterrichtet jüdische Geschichte an einer Tokioter Universität und derzeit arbeitet er für ein großes Verlagshaus an einem Buch, in dem er Aspekte des Judaismus erläutern will, die für Japaner relevant sein können. Etwa die Idee des Sabbat.
Die unaufhörliche, zeitlich entgrenzte Arbeit ist auch einer der Hauptgründe, warum es sogar lange ansässigen Ausländern wie Salomon schwerfällt, Freundschaften mit Japanern zu schließen. „Die meisten sind mit ihrer Firma verheiratet und können nicht frei über ihre Zeit verfügen, auch abends nicht. Außer an den Nationalfeiertagen. Doch dann haben sie familiäre Verpflichtungen zu erfüllen.“ Engere Kontakte knüpfen könne man am ehesten mit Japanern, die eine längere Zeit im Ausland verbracht haben, „die anderen fühlen sich oft unsicher bei gaijin. Sie wissen nicht, wie sie sich benehmen sollen.“ Hinzu kommt die Sprachbarriere – die meisten Einheimischen sprechen kaum Englisch – und eine tiefe Kluft zwischen der japanischen und der westlichen Persönlichkeit. Rabbi Noach: „Japaner sprechen nicht oft über sich und ihre Gefühle. Viele wissen gar nicht, wie das geht, auch wenn sie es manchmal gerne täten.“
Die Folge: Die gaijin bleiben unter sich, wie in einem Reservat. Sie leben in bestimmten Vierteln und treffen sich in bestimmten Lokalen. Zum Beispiel in einer gut besuchten Bar ums Eck von Noachs Wohnung, an der er nicht vorbeigehen kann, ohne dass ihm nicht sofort eine Cohiba und ein Rum in die Hand gedrückt werden. „Man könnte das auch als komfortables Ghetto bezeichnen“, sagt Noach, „aber ich möchte mich nicht integrieren. Ich mag diese Freiheit.“
Die 1953 gegründete Jewish Community, für Salomon „mehr so etwas wie ein Club“, funktioniert derzeit auf Sparflamme: Das neue Hauptquartier wird gebaut, die Eröffnung ist für September 2009 geplant. Sechs Millionen Dollar soll der Neubau kosten. Die gesamte Summe wurde der Gemeinde anonym überwiesen, die Spende soll angeblich aus den USA gekommen sein. Dort wird es eine Synagoge geben, Veranstaltungsräume, eine kleine Schule sowie ein koscheres Restaurant. „Wir haben nur wenige Mitglieder, die streng koscher sind“, sagt Salomon. Für sie müsse das Fleisch extra importiert werden. „Wir haben lange mit der japanischen Regierung gekämpft, um eine Sondergenehmigung für die Einfuhr zu erhalten. Es hat Jahre gedauert, bis die kapiert haben, worum es uns eigentlich geht.“ Nun dürfen pro Monat 30 Kilo importiert werden. „Glauben Sie mir, das Ganze war eine sehr mühsame Geschichte.“