Der polnisch-französische Schachmeister war auch ein begnadeter Schachschriftsteller, der für seine Aphorismen, die sogenannten Tartakowerismen, bekannt wurde.
Von Anatol Vitouch
Die meisten Menschen denken beim Wort „hypermodern“ nicht unbedingt an Schach. Das „Spiel der Könige“ wird von Nicht- oder Gelegenheits- Schachspielern eher mit Ruhe, Bedächtigkeit und jahrhundertealter Tradition assoziiert – also so ziemlich mit dem Gegenteil dessen, was der kulturhistorische Begriff der Moderne bezeichnet.
Ähnlich sahen das jene Altmeister, die um 1920 plötzlich mit Gegnern konfrontiert wurden, die sich weigerten, ihr Spiel den strengen Gesetzen der Schachkunst anzupassen. Gerade erst war das Positionsspiel à la Steinitz (siehe NU Nr. 50) breit rezipiert und vom deutschen Schachmeister Siegbert Tarrasch zur dogmatischen Lehre umformuliert worden: Das Zentrum des Bretts musste laut Tarrasch zuerst mit Bauern, dann mit Figuren besetzt werden, zunächst sollte man die Springer, dann erst die Läufer entwickeln. In seinen Partieanalysen mühte sich Tarrasch, nachzuweisen, dass der richtige Zug immer aus der Kenntnis solcher allgemeiner Positionsgesetze abzuleiten sei. Verhasst waren ihm „hässliche“ Züge, die Logik und Harmonie einer Partie störten und bei richtigem Spiel des Gegners zum Verlust zu führen hatten.
Savielly Tartakowers Buch Die hypermoderne Schachpartie, das Anfang der 20er-Jahre in Wien erschien, war in vielerlei Hinsicht ein Gegenentwurf zu Tarraschs schachlichem Weltbild. Dessen preußischer Strenge setzte Tartakower polyglotten Esprit und subversiven Humor entgegen. In Stil und Inhalt markierte das Buch einen Wendepunkt in der Schachgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Der Krieger
Der 1887 im südrussischen Rostow am Don als Sohn eines österreichischen Kaufmanns und einer polnischen Mutter zur Welt gekommene Tartakower war wohl zum Weltbürger geboren. Jüdischer Herkunft, aber zwecks Assimilation zum Calvinismus konvertiert, besaß er im Verlauf seines Lebens vier verschiedene Staatsbürgerschaften. Im Ersten Weltkrieg noch als Leutnant der k.u.k.- Armee für seine Tapferkeit mehrfach ausgezeichnet, sah er sich später gezwungen, die Fronten zu wechseln: Als Mitglied der polnischen Mannschaft wurde er 1938 während der Schacholympiade in Buenos Aires vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Tartakower schlug das Angebot aus, in Argentinien zu bleiben und meldete sich freiwillig zum Kampf gegen die Nazis. Da der 52-Jährige aber aus Altersgründen von der polnischen Exilarmee abgelehnt wurde, heuerte er stattdessen bei der Fremdenlegion an. Über Nordafrika schlug er sich bis zu einem englischen Kriegsschiff durch, das ihn nach London brachte, wo er sich den Free French Forces von General de Gaulle anschloss. Solcherart kehrte Tartakower aufs europäische Festland zurück, wo er nach Kriegsende Quartier in einem kleinen Pariser Hotel bezog, das er bis zu seinem Tod 1956 bewohnte.
Seine Schachkarriere startete Tartakower – wie viele andere Meister der Epoche – in Wien. Wiewohl er von Anfang an keine Zweifel über sein Ziel aufkommen ließ, zur Weltspitze des Schachs aufzusteigen, schloss er nicht nur parallel ein Jus-Studium ab, sondern tat sich auch als Lyriker und Übersetzer zeitgenössischer russischer Dichtung hervor. In dieser geistigen Vielseitigkeit und wesenhaften Intellektualität Tartakowers dürfte auch der Grund seiner Begeisterung für die „hypermoderne“ Spielweise liegen – eine Bezeichnung, die eigentlich pejorativ gemeint war, von ihm jedoch ins Positive gewendet wurde.
Die Hypermodernen verstanden sich als geistige Verwandte des Expressionismus in der Kunst. Nicht Harmonie und Natürlichkeit der Partienanlage waren ihre Ideale, sondern Einfallsreichtum und Exzentrizität. Wo Tarrasch und Konsorten danach trachteten, ein System allgemeiner Regeln zu vervollständigen, suchte Tartakower – wie seine Mitkämpfer Réti und Breyer – nach der Ausnahme, dem Geistesblitz, kurz: dem Besonderen, das die Herrschaft des Allgemeinen auf dem Schachbrett unterminieren sollte.
„Tartakowerismen“
Tartakower war von Jugend an ein brillanter Angriffsspieler, und so behagte ihm gerade auch im praktischen Spiel die neue Unübersichtlichkeit, die durch den als „kakophonisch“ verschrienen hypermodernen Stil entstand. Obwohl er ab den 20er- Jahren für zwei Jahrzehnte zur Weltspitze gehörte, reichten seine Ergebnisse nicht, um sich für einen Zweikampf um die Weltmeisterschaft zu qualifizieren. Als Schachschriftsteller hätte er den Weltmeistertitel dagegen widerspruchslos für sich reklamieren können.
Mit Die hypermoderne Schachpartie begann er einen Reigen von Publikationen, mit denen er die revolutionäre neue Spielauffassung in einer angemessen entstaubten, humorvollen Sprache erläuterte. Der Begriff der „Tartakowerismen“ wurde bald für jene sprachlichen Miniaturen geprägt, die ihr Autor regelmäßig vom Stapel ließ: „Die Drohung ist immer stärker als ihre Ausführung“ oder „Der vorletzte Fehler gewinnt“ sind zwei Beispiele aus seiner Feder, die unter Schachspielern noch heute als geflügelte Worte zirkulieren.
Besondere Kreativität bewies Tartakower auch, wenn es um die Benennung neuer Eröffnungen ging, mit denen die Hypermodernen die alte Ordnung torpedierten, nach der jede Partie mit dem Doppelschritt eines Zentralbauern zu beginnen hatte. Anlässlich eines Zoobesuchs, so Tartakower, habe ihn die vertikale Kletterbewegung eines Affen zwingend an den Aufzug des weißen b-Bauern erinnert.
Sollten Sie es nicht glauben, dann schlagen Sie es ruhig in einem Schachlexikon oder auf Wikipedia nach: Tartakowers Assoziation wegen ist dieser Zug auch heute noch unter dem Namen „Orang-Utan-Eröffnung“ bekannt.
Schach als Serie im NU
Nicht weniger als sechs der fünfzehn Weltmeister, aus denen die 1886 mit dem Juden Wilhelm Steinitz begonnene Ahnenreihe der Schachchampions besteht, waren jüdischer Herkunft. Hinzu kommen noch mehrere jüdische WM-Herausforderer sowie unzählige jüdische Großmeister des Spiels. Grund genug für NU, jüdischen Schachgrößen eine Serie zu widmen. In ihr porträtieren wir die wichtigsten jüdischen Schachspieler – inklusive eines Schachrätsels.