Mit dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin steht dieses Jahr einer schärfsten Kritiker Vladimir Putins im Rampenlicht von „Literatur im Nebel“.
Von Gabriele Flossmann
Was ist Literatur? Diese Frage stellte der Philosoph, Dramatiker und Romancier Jean-Paul Sartre (1905-1980) in einem seiner berühmtesten Essays im Jahr 1947, zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine Überzeugung: Ein Schriftsteller trage eine moralische wie politische Verantwortung für seine Epoche und müsse die Verbrechen eines herrschenden Regimes benennen. Die Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur, die auch in Frankreich ihre Anhänger fand, hatten Sartre zu seinem kämpferischen Essay inspiriert: Ein Schriftsteller müsse sich fragen lassen, warum er in dieser Zeit etwa über Briefmarken und nicht über Antisemitismus geschrieben habe.
Was dies alles mit dem erfolgreichen Festival „Literatur im Nebel“ zu tun hat, das seit 2006 im niederösterreichischen Heidenreichstein stattfindet? Sehr viel, wenn man die Namen der bisherigen Ehrengäste, etwa Salman Rushdie, Amos Oz, Jorge Semprún, Margret Atwood, Hans Magnus Enzensberger und Liao Yiwu, liest. Sie alle benennen, wie es Sartre gefordert hatte, in ihrer Literatur politisches Unrecht.
Und was hat der diesjährige Gast, Vladimir Sorokin, mit Sartres Literaturverständnis zu tun? Warum fassten die Initiatoren von „Literatur im Nebel“ in dem Jahr, in dem Russland einen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, den Entschluss, einen russischen Autor einzuladen? In diesem Zusammenhang ist es interessant, auch den zweiten, den anderen Sartre näher zu betrachten, der sich als Kommunist mit seiner Kritik am Stalinismus stets dann zurückhielt, wenn es opportun war; der die Aufführung seines Stücks Die schmutzigen Hände zu verhindern versuchte, weil es den Kommunisten nicht gefiel. Der französische Philosoph Bernard-Henri Levy hatte in seiner Biografie Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts einige Mühe zu erklären, wie und warum Intellektuelle sich irren können – mit der Einsicht, dass hellsichtigste Erkenntnis und finsterste Verblendung nah beieinander liegen können. Um sich als Gast für „Literatur im Nebel“ zu qualifizieren, sollte der oder die Geehrte möglichst frei sein von jeder unheilvollen Vermengung von Erkenntnissen und Verblendungen – ganz besonders im Hinblick auf die Machtverhältnisse im heutigen Russland.
Sartres Maxime, die etwa lauten hätte können: „Schreibe so, dass die Nazis dich verbieten würden“, müsste also im Fall von Vladimir Sorokin lauten: „Schreibe so, dass Putin dich verbieten würde.“ Das hat der russische Autor und diesjährige Festivalast geschafft. Der 1955 in der Nähe von Moskau geborene Romanautor und Dramatiker lebt heute in Berlin. Er hat den Verlust der Heimat auf sich genommen, weil er die Wahrheit über das heutige Russland schreibt.
Wer Russland verstehen will, muss Vladimir Sorokin lesen. In seinen Erzählungen markiert er die politischen Tendenzen mit bösem Humor. So erzählt er etwa von der in Aufruhr geratenen Staatsmacht: Über Nacht hat sich das Uran in den Atomsprengköpfen in Zucker verwandelt. Verzweifelt wenden sich hohe Vertreter von Politik, Militär und Kirche mit letzter Hoffnung an einen alten Mönch, der direkten Kontakt zu Gott haben soll. Es steht nicht wenig auf dem Spiel, denn das unerwartete Ereignis stellt die militärische Stärke Russlands in Frage. Das Wissen, immer für alle Fälle ein paar Atomraketen parat zu haben, hält das Land im Inneren zusammen und garantiert seinen Platz in der Welt. Dieses groteske Szenario entwirft Sorokin in seiner Erzählung Lila Schwäne, in der er den Nationalismus und Militarismus in Putins Russland gekonnt entlarvt.
„Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB“, lässt er in seiner aktuellen Erzählsammlung Die rote Pyramide einen sowjetischen Geheimdienstler sagen. Dieser säuselt die Worte, nachdem er gerade eine junge Pionierin vergewaltigt hat. Ein junger Pionier hört heimlich mit. Dessen Schlussfolgerung? Er geht zum KGB. „Die mächtigsten Leute bei uns im Land sind heutzutage die Offiziere des KGB“ – mit diesem Satz lässt sich in gewisser Weise auch Sorokins Credo zusammenfassen. Er, der in der Sowjetunion verboten und kurz nach dem Regierungsantritt Putins von dessen Gefolgsleuten verpönt und verklagt worden ist, sieht als knallroten Faden der russischen Geschichte den Geheimdienst. Iwan der Schreckliche legte damit los, und Sorokin hat diese Entwicklung literarisch bereits in Der Tag des Opritschniks oder Der Zuckerkreml festgehalten. Chronologische Genauigkeit spielt in Sorokins Erzählungen keine Rolle, wichtig ist die Kontinuität der Handlungen, die meist in einer Abwärtsspirale verlaufen. Die beiden KGBler in dieser Erzählung gestehen – von Deportationen, Anzettelung der sogenannten „Ärzteverschwörung“ bis zu Erschießungen – alles ein. Immer wieder stellen sie sich wechselseitig die Frage: „Und schämst du dich nicht?“ Immer wieder antworten sie: „Nein.“
Vladimir Sorokin gelingt es, den Nationalismus und Militarismus in Putins Russland gekonnt zu entlarven: als ein mit Sowjetnostalgie getränktes Großmachtdenken, gemixt mit konservativer Religiosität, die zusammen die Grundlage für den aktuellen russischen Nationalismus bilden und das ideologische Vakuum füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist. Für Aufsehen sorgte der russische Schriftsteller schon seit seinen ersten Veröffentlichungen Ende der 1970er Jahre, seit Beginn der 2000er Jahre haben seine Werke mehr und mehr dystopische Züge angenommen. Er dekonstruiert gleichermaßen den sozialistischen Realismus, den klassischen Roman des 19. Jahrhunderts und populäre Genres wie Krimi und Thriller und fährt in seiner Literatur eine ganze Bandbreite an Formen auf, zu denen bitterböser Humor und Situationskomik genauso gehören wie Schock und Provokation.
Die Erzählungen sind nicht alle im gleichen Maße gelungen, aber immer überraschend und herausfordernd. So absurd und fantastisch die geschilderten Situationen auch sein mögen – den Kern der bitteren Wahrheit über aktuelle politische Tendenzen lässt Sorokin in seinen Erzählungen gewaltvoll hervorbrechen und steigert ihn ins Exzessive: Machtmissbrauch, Gewalt und Sex. Gerade weil seine Bücher brutal, derb und systemkritisch sind, ist Vladimir Sorokin eine Kultfigur in Russland. Trotz (oder wegen?) seiner deutlichen Kritik am russischen Staat ist er ein in Russland viel (und mittlerweile meist heimlich) gelesener Autor, der mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde und dessen Bücher in Uni-Seminaren behandelt werden. Erstaunlicherweise lesen manche Nationalisten Sorokins dystopische Entwürfe nicht als Mahnung oder Kritik, sondern als vielversprechende Prophezeiung, zeigen sie doch Russland als isolierten Staat mit traditionalistischer, gottesfürchtiger Lebensweise und monarchistischer Gewaltherrschaft.
Sorokin erlebte in Russland immer wieder starke Anfeindungen, Putin-nahe Jugendgruppen gingen, mit Rückendeckung in höheren Kreisen, gegen den Autor vor, bis zur Vernichtung und Verbrennung seiner Bücher. Schließlich wird in Russland schon seit Jahren um die sowjetische Vergangenheit gerungen, Sorokin wendet sich gegen die gerade zügig voranschreitende Rehabilitierung Stalins sowie das Narrativ, dass das Leben in den Gulags gar nicht so schlimm gewesen sei, wie offizielle Stellen bereits vermelden ließen. Die Regierung versucht, ihre Deutung mit zunehmender Vehemenz durchzusetzen, wie auch die Zerschlagung der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ zeigte, die sich für die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors einsetzte. Und nun der Krieg gegen die Ukraine, der vorhersehbar gewesen ist und auf den der Westen eher hilflos mit Sanktionen reagiert.
Schon in dem bereits erwähnten, 2008 erschienenen satirischen Roman Der Tag des Opritschniks bewies Sorokin politisch hellseherische – oder besser: schwarzseherische – Fähigkeiten. Der Roman handelt im Jahr 2027, es herrschen Willkür und Gewalt. Nationale Rhetorik entpuppt sich als blanke Propaganda. Das Beunruhigende an Sorokins satirischen oder apokalyptischen Zukunftsentwürfen ist ihre gefühlte Nähe zu Gegenwart und Vergangenheit. Die Opritschnina war im 16. Jahrhundert ein von Iwan IV., dem Schrecklichen, gebildeter Bund loyaler Dienstadeliger, den Iwan zur Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen gegen Erb- und Hochadel sowie die Kirche in Stellung brachte. Die Mitglieder des Bundes, die Opritschniki, waren zugleich eine Art Leibgarde, des Zaren dunkle Sonderpolizei, dazu da, dessen Willen zu exekutieren. Die Parallelen zum heutigen Russland liegen auf der Hand: Die schönen Reden über eine scheinbar geregelte, funktionierende Gesellschaft entpuppen sich als hohle Propaganda, die einen komplett rechtsfreien Raum nur notdürftig zu verhüllen sucht.
Sorokin, dieser Meister der schwarzen Groteske, warnte schon in den 1990er Jahren vor der politischen Entwicklung in seinem Heimatland und vor einem Rückfall in feudalistische Zeiten. Seine literarische Zukunftsvision einer großen Rückwärtsgewandtheit ist Wirklichkeit geworden. Auf Sorokins Auftritt bei „Literatur im Nebel“ darf man also gespannt sein.
Literatur im Nebel
21. und 22. Oktober 2022
www.literaturimnebel.at