Reise zu meinen Wurzeln

Flucht, Exil und die immer wiederkehrende Frage nach jüdischer Identität sind die Themen der Bücher des österreichischen Schriftstellers Vladimir Vertlib. In NU spricht der 37-Jährige über seinen Heimatbegriff, über Antisemitismus und die „verzopfte“ Politik der IKG.
Von Saskia Schwaiger

Sie wissen doch, dass Antisemiten die Juden immer für dumm und verbohrt halten werden, egal, was sie tun. Was wollen Sie in erster Linie sein? Ein Mensch oder ein braver Jude?“ Diese provokante Frage, gerichtet an den 37-jährigen Gabriel Salzinger, zieht sich wie ein roter Faden durch Vladimir Vertlibs gesamten jüngsten Roman, „LetzterWunsch“. Gabriel Salzinger, Vertlibs Protagonist und Alter Ego, will den letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters erfüllen und ihn am jüdischen Friedhof neben seiner Frau bestatten lassen. Doch unmittelbar als der Sarg hinabgelassen werden soll, wird die Zeremonie jäh unterbrochen. Eine Mitarbeiterin der Kultusgemeinde hat herausgefunden, dass Gabriels Vater nach orthodoxer Auffassung gar kein Jude gewesen war: Seine Mutter, als Christin geboren, hatte – gegen den Widerstand von Familie und damaliger Gesellschaft – den jüdischen Glauben ihres Mannes angenommen. Die Konversion war freilich durch einen liberalen Rabbiner vorgenommen worden und folglich – so die Auffassung der Kultusgemeinde des fiktiven deutschen Kleinstädtchens Gingricht – könne auch ihr Sohn unmöglich als Jude anerkannt werden. Nachdem Vorfall auf dem Friedhof entspinnt sich ein tragikomischer Plot: Gabriel, hin- und hergerissen zwischen der restriktiven Politik der jüdischen Gemeinde einerseits und der verklemmten, latent antisemitischen Gesellschaft andererseits, versenkt zuletzt, in einem Akt der Verzweiflung, den toten Leib seines Vaters im Meer. „Letzter Wunsch“ ist das vierte Buch des 37-jährigen gebürtigen Russen Vladimir Vertlib, das sich mit den Themen Flucht, Exil und jüdische Identität befasst. Nach seinem stark autobiographischen Erstlingswerk „Abschiebung“ (Otto Müller Verlag 1995) beschreibt er im 1999 erschienenen Buch „Zwischenstationen“ die Irrfahrt von Leningrader Emigranten quer durch Europa, die – der Bahn eines Bumerangs vergleichbar – letztlich immer wieder im „Land der Nazis“, im vom Vater so verhassten Österreich landen. Im dritten Werk, „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“, schildert eine alte Zeitzeugin ihr skurriles Leben. „Letzter Wunsch“ (Deuticke 2003) schließlich beendet den Zyklus jüdischer Themen. NU besuchte den Autor, der hauptsächlich in Salzburg lebt, in der Wohnung seiner Mutter im 2.Wiener Gemeindebezirk.

 

NU: Sie sind in der Sowjetunion geboren, nach Israel ausgewandert und kamen mit vielen Zwischenstationen nach Wien. Warum wurde Wien Ihre Heimat?

Vertlib: Das ist auf eine Verkettung von Zufällen zurückzuführen. Ursprünglich wollten meine Eltern nach Israel, blieben aber nur ungefähr ein Jahr lang dort. Sie waren mit völlig unrealistischen Erwartungen eingewandert und von den Zuständen im Land bald enttäuscht. Zu Beginn der Siebzigerjahre wusste man in der Sowjetunion noch kaum etwas über den Westen, der Informationsfluss war sehr gering. Meine Eltern hatten die Illusion, dass der jüdische Staat etwas ganz Besonderes sein müsse, ein Ort, an dem alle Juden „solidarisch und voller Enthusiasmus gemeinsam am Aufbau des Landes mitarbeiten“. Dass es dort auch Korruption, soziale Ungerechtigkeit und Parteibuchwirtschaft gibt, war für sie ein Schock. Außerdem wurden sie mit Vorurteilen und Klischees konfrontiert, die viele Alteingesessene über die Neuzuwanderer aus der Sowjetunion hatten. Deshalb entschlossen sie sich zur nochmaligen Emigration, in die USA, nach Kanada oder in eines der anderen „klassischen“ Einwanderungsländer. Kurzzeitig spielten sie sogar mit dem Gedanken, in die Sowjetunion zurückzukehren. Nach Wien sind sie gekommen, da diese Stadt während der Kreisky-Zeit die Drehscheibe der Ostemigration war. Auch für Re-Emigranten aus Israel gab es eine – wenn auch rudimentäre – Infrastruktur. So war Wien fast zwangsläufig ihre erste Station. Das Dilemma meiner Eltern war, dass sie in Österreich zwar nicht heimisch werden konnten und weg wollten, sich bei ihren Auswanderungsversuchen aber so ungeschickt anstellten, dass die Odyssee der Emigration sie, wie die Flugbahn eines Bumerangs, doch immer wieder nach Wien zurückführte.

NU: Haben Sie diese Flugbahn des Bumerangs manchmal verflucht? Oder waren Sie zufrieden mit diesem Zufall?

Vertlib: Mein Vater hat immer gesagt: Österreich ist, nach allem, was in der NS-Zeit passiert ist, kein Land für Juden. Ich habe diese Vorstellung zunächst übernommen, habe mich hineingeträumt in eine utopische Gegenwelt an einem anderen Ort, wo alles anders, alles besser sein würde und wo sich meine persönlichen Probleme als Zuwanderer wie von selbst auflösen würden. Das war natürlich eine Illusion. Erst als ich erwachsen war und intensiv zu schreiben begonnen hatte, als mir klar wurde, dass dieses österreichische Deutsch meine Schreibsprache sein würde, konnte ich mich von der zwanghaften Vorstellung, irgendwann weiteremigrieren zu müssen, lösen. Die österreichische Mentalität und Lebensart war ja ohnehin zu einem Teil meiner eigenen Identität geworden. So bin ich schließlich doch Österreicher geworden.

NU: In „Letzter Wunsch“ gibt es eine Szene, in der der Protagonist Gabriel Salzinger in Wien ankommt und als „Piefke“ bezeichnet wird. Er selbst sieht es als Bestätigung für den Antisemitismus in der Stadt und ist erleichtert, als er herausfindet, dass es „nur“ antideutsch, aber nicht antijüdisch war. Wie antisemitisch ist Wien in Ihren Augen?

Vertlib: Die Ängste, Klischees und Vorurteile, die man im Kopf hat, treten oft anders in Erscheinung, als man erwartet. Das wollte ich in der oben erwähnten Szene meines Romans zeigen. Im Vergleich zu anderen Orten ist der Antisemitismus in Wien abgründiger, zum Teil auch versteckter, und wenn er einmal direkt daherkommt, ist er oft schärfer und verletzender als anderswo. Die physische Bedrohung ist zwar bei weitem nicht so groß wie in manchen anderen Ländern, doch die verbalen Attacken sind meist sehr verletzend, weil sie den Kern der Persönlichkeit zu treffen versuchen und alles andere als „einfach nur so dahergesagt“ sind. Ich möchte hier nicht von gewissen Erlebnissen in der Straßenbahn erzählen – Erfahrungen dieser Art haben andere genauso gemacht wie ich. Oft begegnet mir auch ein übertriebener Philosemitismus, der in Wirklichkeit eine Spielart des Antisemitismus ist, weil man mich wieder nicht als Mensch, sondern in erster Linie als Jude sieht. Die Erwartungen an mich sind dann so hoch, dass ich diese ohnehin nur enttäuschen kann. Und plötzlich bin ich dann nicht mehr der gute Jude, sondern wieder der schlechte Jude. Manche Menschen nehmen automatisch eine Rechtfertigungsposition ein, obwohl ich sie gar nicht angreife. Allein die Tatsache, Jude zu sein, dazu zu stehen und es offen zu artikulieren, irritiert sie so sehr, dass sie sofort zu Selbstkritik oder zu Selbstbeschuldigungen neigen. In Deutschland erlebe ich das seltener, weil der Diskurs über die Vergangenheit und die Schuld Deutschlands am Holocaust eine viel längere Tradition als in Österreich hat. Deshalb können sich viele Menschen differenzierter – bzw. „normaler“ – zu den Themen Judentum oder deutsch-jüdische Vergangenheit äußern.

NU: Ihre Bücher kreisen immer wieder um das Thema jüdische Identität. Welche Rolle spielt Ihre jüdische Identität für Sie persönlich?

Vertlib: Diese Frage stellt sich für jeden Juden. Man diskutiert ja seit 2.000 Jahren darüber, wer Jude ist oder nicht. Für mich persönlich ist primär die Zugehörigkeit zur Schicksalsgemeinschaft ausschlaggebend.

NU: Viele, die sich dieser Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühlen, werden aber nach der Halacha von der Kultusgemeinde gar nicht als Juden anerkannt. Genau dieses Dilemma beschreiben Sie ja auch in „Letzter Wunsch“ – was ist Ihre Meinung?

Vertlib: In meinem Buch wollte ich am Beispiel des Judentums zeigen, dass Identität etwas Fließendes, etwas Uneindeutiges ist, dass wir uns unserer selbst und unserer Umgebung nie ganz sicher sein können. Ich selbst betrachte mich, wie gesagt, als Teil der jüdischen Schicksalsgemeinschaft. Die ganze Odyssee, die ich während meiner Kindheit machen musste, hätte nicht stattgefunden, wenn ich nicht jüdischer Herkunft gewesen wäre. Die sehr restriktive Auslegung der Zugehörigkeit zum Judentum durch die Kultusgemeinde ist aber etwas, das mich stört, denn ich glaube, dass gerade die Kultusgemeinden sich nicht jüdischer gebärden sollten als der Staat Israel: Das israelische Rückkehrgesetz besagt unter anderem, dass jemand auch dann zuwandern darf, wenn er einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter hat. Die Zugehörigkeit zum Judentum und das Rückkehrrecht wird ihm nicht verwehrt. Andererseits habe ich ein gewisses Verständnis für jene, die anders argumentieren. Es gibt zum Beispiel Menschen, die nach dem Trauma der Schoah nur in einer Rückbesinnung auf das religiöse Fundament einen Halt im Leben zu finden vermögen. Diese Haltung ist verständlich und zu respektieren. Ich halte es aber für falsch, wenn diese Form der Rückbesinnung oder ein allzu rigider Traditionalismus, egal welche Gründe es dafür geben möge, zum wesentlichen oder gar beherrschenden Faktor innerhalb des heutigen Judentums wird.

NU: Sind Sie selbst Mitglied der Kultusgemeinde?

Vertlib: Ja, ich bin Mitglied der IKG in Salzburg. Das Problem des Helden in meinem Roman habe ich nicht; ich bin nach allen Kriterien – ob nach denen des orthodoxen Judentums oder den Nürnberger Rassegesetzen – Volljude. Die strengen und zum Teil sehr bedenklichen Definitionsregeln, wer Jude ist, könnte man noch hinnehmen, da es ja die Möglichkeit des Übertritts gibt. Nur ist es gerade in Wien sehr schwer überzutreten. In vielen Fällen ist das fast unmöglich. Dies ist für mich noch viel schlimmer als das Festhalten an der starren Definition der Zugehörigkeit zum Judentum über die Herkunft der Mutter. Religiös betrachtet ist jemand ein Jude, wenn er eine jüdische Mutter hat oder zum jüdischen Glauben übergetreten ist, aber wenn die Möglichkeit eines Übertritts praktisch verwehrt wird, widerspricht das dem Wesen des Judentums. Es ist für einen Menschen ohnehin schon schwer, sich für einen Übertritt zum Judentum zu entscheiden. Wenn er es dennoch tut, hat er meist einen triftigen Grund dafür. Ich verstehe nicht, dass die Kultusgemeinde in Wien derart konservativ und verzopft ist. Die meisten Kultusgemeinden in Deutschland, England oder den USA sind viel liberaler und offener.

NU: Wird Ihr nächstes Buchprojekt wieder ein jüdisches Thema behandeln?

Vertlib: Nein, dieser Zyklus ist für mich vorläufig abgeschlossen. Die jüdischen Themen dienen mir als Symbol, um allgemein gültige Themen aufzuwerfen und menschliche Schicksale zu beschreiben. Aber ich sehe mich nicht primär als einen Chronisten des Judentums.

NU: Trotz aller Dramatik der Themen spielt Humor eine große Rolle in Ihren Büchern. Wie gehen Sie dabei mit der eigenen schmerzhaften Erinnerung um?

Vertlib: Distanz ist wichtig. Mit meinem ersten Buch „Abschiebung“ habe ich mir viel Zeit gelassen. Trotz zahlreicher fiktiver Elemente hat es eine klare Verankerung in meiner eigenen Biographie. Ich habe 15 Jahre gebraucht, um über die Erlebnisse von Emigration, Fremdsein und Ausländerfeindlichkeit sprechen und vor allem schreiben zu können und um jenen traumatischen Tag der Abschiebung aus den USA zu verarbeiten. Erst aus der zeitlichen Distanz konnte ich mehr oder weniger leichtfüßig und mit Humor darüber schreiben. Humor ist unter anderem eine Möglichkeit der ironischen Brechung des Tragischen. Wenn man das schafft, kann man die Dinge schärfer und plastischer wahrnehmen. Außerdem hat Lachen eine befreiende Wirkung.

 

INFO

Vladimir Vertlib, 1966 in Leningrad geboren, emigrierte als Fünfjähriger mit seinen Eltern zunächst nach Israel. Die Suche nach einer sicheren Heimat sollte insgesamt jedoch zehn Jahre dauern: Von Israel zog die Familie nach Österreich, dann Holland, wieder Israel, Italien, Österreich, USA, Österreich und blieb schlussendlich in Wien.

Vertlib, inzwischen österreichischer Staatsbürger, bezeichnet sich selbst heute als „gelernten Österreicher“. Das Thema Flucht und Fremdenfeindlichkeit ist dennoch ein zentrales Thema seiner Werke, für die er unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (wird an deutsch schreibende Künstler mit nicht-deutscher Muttersprache verliehen) und dem Förderungspreis für Literatur ausgezeichnet wurde.

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