Helen Liesl Krag fuhr nach Belgrad, um dabei zu sein, wie sich ihr Vater von seinem Vater, Jakob Abraham Rosenstrauch, verabschiedete. Spurensuche einer Familie, die sich nach 60 Jahren der Geschichte stellt.
Von Helen Liesl Krag
Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn mein Vater 60 Jahre nach dem Geschehen seinem Vater entgegenreiste, um sich endgültig von ihm zu verabschieden. Mein Motiv: vielleicht eine Art historischer Voyeurismus, aber auch eine ganz gegenwärtige Neugierde. Jahrzehntelang habe ich zugehört, wenn mein Vater über seinen Vater berichtete, oder – was auffälliger war – nicht berichtete. Im Grunde genommen erzählte er immer dieselben humoristisch dargebrachten Geschichterln von häuslichen Streitereien über das Jüdischsein, die schon mit 13 begannen (das war 1931), über Pubertätsaufruhr, als die politische Aktivität meines Vaters auf den Widerstand und die Besorgnis seines Vaters stieß, über den endgültigen Bruch mit dem Vater. 1938 flüchtete mein Vater in die Slowakei, von dort nach England. Seinen Vater sah er nie wieder. Über ihn sprach er auch nur selten, und das Haus und die Straße gleich beim Augarten, in dem er 20 Jahre lang mit Eltern und Geschwistern aufgewachsen war, vermied er geflissentlich. 1. Akt: Ich habe meinen Großvater väterlicherseits nie gekannt. Als Kind habe ich zwar alle Schulkollegen beneidet, die Großeltern hatten, bei denen sie vor der Strenge der Eltern Schutz und Trost finden konnten – so meine kindliche Phantasie, aber nach diesem einen konkreten Großvater habe ich mich nie gesehnt, weil ich von ihm und von seiner Biographie so gar nichts wusste. Als ich dann in den 80er Jahren an einem Buch über meine Großmutter arbeitete („Man hat nicht gebraucht keine Reisegesellschaft…”, 1988 und 1992), tauchte auch ihr Mann in mein Bewusstsein ein. Ich sprach mit Leuten, die ihn gekannt hatten und stöberte in Schubladen, aus denen seine Briefe und Dokumente an die Oberfläche kamen. Er sei ein guter Vater gewesen, erfuhr ich, seine Ehe aber sei schlecht gewesen; er habe – obwohl 1914 aus Galizien geflüchtet – sehr gut Deutsch gesprochen, weil er in Deutschland eine Handelsschule besucht hatte, er habe dank seiner Sprachkenntnisse Nachbarn und Freunden im Kampf mit den Wiener Behörden tatkräftig helfen können; er habe in der Volkshochschule Ungarisch und Kalligraphie gelernt, sagte man mir, und sei überhaupt ein intelligenter und lebensfroher Mensch gewesen. In der Krise 1929–30 habe er seine Arbeit als Buchhalter verloren, er sei gern ins Kaffeehaus gegangen und habe auch mit den Dienstmädchen geschäkert. Er habe die Kinder sehr geliebt und sei besonders stolz gewesen, als sein Ältester, der einzige Sohn, ins Gymnasium aufgenommen wurde, und besonders betroffen, als dieser aus politischen Gründen ins Jugendgefängnis musste und aus dem Gymnasium relegiert wurde. Im April 1938 suchte er beim amerikanischen Konsulat um Ausreisegenehmigung für die Familie an, kam aber seiner galizischen Herkunft wegen auf die „polnische Liste“ mit ihren langen Wartezeiten. Nach der Kristallnacht wurde er verhaftet und mit anderen „Aktionsjuden“ ins KZ verschleppt. All das erfuhr ich nach und nach bei meinen Recherchen zum Buch. Und eines Tages begegnete der Großvater mir sozusagen persönlich: Ich war ins DÖW gegangen, um festzustellen, ob er in Dachau gewesen war. So genau hatte ich das vorher nicht erfahren. Ich suchte lange und war schon am Aufgeben. Und dann stand da doch sein Name in der endlosen Liste: unter der Einlieferungsnummer 26.448. Da geschahen zwei Dinge: Erstens jubelte meine Forscherseele, ich hatte im Archiv gefunden, wonach ich gesucht hatte. Zweitens weinte meine Kinderseele, weil da plötzlich ein echter Mensch war: Jakob, mein Großvater. 2. Akt: Zehn Schweigejahre später rief mich mein Vater an, um eine bemerkenswerte Geschichte zu berichten. Er war anlässlich des 60. Jahrestages der Kristallnacht bei einer Gedenkfeier gewesen, bei welcher der Wiener Kardinal seiner Freude über die zwischen der katholischen Kirche und der jüdischen Gemeinde entstandene Freundschaft Ausdruck verlieh. Während mein Vater der Rede des Kardinals zuhörte, gingen ihm die Ereignisse durch den Kopf, die ihn und seine Familie damals gezwungen hatten, die Heimat zu verlassen und die seinen Vater nach Dachau brachten und später dann in den Tod in Jugoslawien. Der Gedanke schlich sich – erstmals – ein, so seine Worte, dass da vielleicht etwas nicht in Ordnung sei. Er schäme sich darüber, sagte er am Telefon, dass er all die Jahrzehnte geschwiegen habe, sich nie dafür interessiert habe, was seinem Vater wirklich geschehen war. Er wolle, sagte er, das Versäumte wieder gutmachen, er wolle seine Schwestern fragen, was sie wüssten, und – am allerwichtigsten – er wolle nach Belgrad fahren und sicherstellen, dass ein Gedenkakt für die fast tausend vornehmlich österreichischen Juden stattfinden kann, die im Oktober/November 1941 von der Wehrmacht, unter der Leitung eines österreichischen Generals ermordet worden waren. 1941 waren sie natürlich nicht österreichisch, das Land gab es nicht mehr, die Ermordeten waren jüdisch und die anderen, die Ermordenden, deutsch, aber vor 1938 waren die einen wie die anderen Österreicher gewesen. Es lag ihm daran, so mein Vater damals, dass das offizielle Österreich an diesem Gedenkakt teilnehmen sollte, dass Österreich sich zu diesem Verbrechen bekennen sollte. Ich versprach ihm sofort meine volle Unterstützung und bat ihn, mir von seinem Vater zu erzählen. Das versprach er, obwohl er wiederholt betonte, dass er sich an nichts erinnere. Auch nicht an die Berichte über den dramatischen, missglückten Fluchtversuch des Vaters, die ich in meinem Buch kurz beschrieben hatte, und die er mehrmals gelesen hatte. Später erschien ein Buch über den missglückten Massenfluchtversuch aus Wien (Gabriele Anderl/Walter Manoschek: Gescheiterte Flucht, 1993), auch das hatte er gelesen. Die Verdrängung war konsequent und fast total. Jetzt begann er wieder nachzulesen und nachzufragen. Aus unserer Reise nach Belgrad wurde vorerst nichts. Der damalige österreichische Botschafter in Jugoslawien, Wolfgang Petritsch, hatte sich zwar um eine offizielle Gedenkfeier bemüht, aber dann kamen 1999 die Bombenangriffe der NATO auf Belgrad wegen des befürchteten Völkermordes an den Kosovoalbanern, und im Jahre 2000 kamen die Sanktionen gegen Österreich wegen des Regierungsantritts der FPÖ. Als die Pläne sich im Bombenregen nicht verwirklichen ließen, trat das Schweigen wieder ein. Dieses schmerzvolle Schweigen, das ich aus meiner Kindheit so gut kannte. 3. Akt: Fünf Jahre danach, im Spätherbst 2002, fuhren wir dann doch nach Belgrad. Mein Vater, 84, seine Schwester E., 78, meine Schwester H., 57, und ich, 60. Ich begleitete meinen Vater und seine Schwester auf der Reise in die Vergangenheit, ins Erinnern, ins Abschiednehmen. Und dann standen wir am jüdischen Friedhof in Belgrad. Wir fanden die Grabstätte, von der wir öfters geredet hatten. Hierher hatte die jüdische Gemeinde Ende der 50er Jahre meinen Großvater – gemeinsam mit vielen anderen Großvätern – überführt und beigesetzt. Für ihn, Jakob Abraham Rosenstrauch, war es die letzte Station eines relativ kurzen Lebens. Wie so viele andere hat er das Jüdischsein mit einem hohen Preis bezahlt. Dort, am Friedhof in Belgrad begann E. über den Vater zu erzählen. Mein Vater schwieg – mit Tränen im Augenwinkel. Das Monument am Friedhof in Belgrad sei, so sagte später beim Festakt der Präsident der jüdischen Gemeinde, der beste Beweis dafür, dass man sich in Serbien bemühte, Juden zu retten und dass man dann später für ihre Beisetzung sorgte. Diese Opfergemeinschaft von Serben und Juden kam immer wieder zur Sprache und erhielt angesichts der kürzlich erlebten NATO-Bombenangriffe eine neue Bedeutung. Der „Kladovo-Transport“ war im November 1939 der letzte Transport gewesen, der aus Wien wegkam. Die Slowakei war offiziell unabhängig geworden, hatte strenge Judengesetze eingeführt, inhaftierte die Flüchtlinge und zwang sie zur sofortigen Weiterreise. Auf einem überladenen Donauschiff ging es an die ungarische Grenze, von dort auf drei kleinen jugoslawischen Ausflugsschiffen in ungeheizten Kabinen bei Minusgraden weiter die Donau hinunter. In Kladovo mussten die Schiffe mit den Flüchtlingen zur Jahreswende 1939/40 Notquartier machen, hier sollten sie die Eisschmelze abwarten. An jugoslawische und ausländische Organisationen wurden Hilfsappelle geschickt, es wurden Kollekten organisiert, trotzdem war die Wartezeit in Kladovo von Konflikten, Hunger, Epidemien und Unsicherheit geprägt. Im Frühjahr 1940 wurden am Donauufer Notbaracken und Zeltlager errichtet – wie auch heute waren 1.000 gestrandete Flüchtlinge eine organisatorische Herausforderung. Nach Monaten des Wartens wurden die Flüchtlinge aus Wien im September 1940 auf Schleppern nach Sabac (Schabatz) an der Save verfrachtet, die bei Belgrad in die Donau mündet. Auch von dort wurden Bittbriefe in die Welt geschickt und es gelang, die Flüchtlinge mit dem Wichtigsten zu versorgen. 200 Jugendlichen gelang es vom Schabatzer Bahnhof über Griechenland und die Türkei nach Palästina zu entkommen. Die immer noch mehr als 1.000 Flüchtlinge wurden im Frühjahr 1941 von der deutschen Armee eingeholt, aus ihren provisorischen Wohnungen in Sabac ausquartiert und, gemeinsam mit lokalen Roma, in ein Notlager am Save-Ufer gebracht. Am 25. Oktober 1941, fast zwei Jahre nach Fluchtbeginn, wurden die 888 Männer im Dorf Zasavica von der Wehrmacht erschossen. Ihr Tod war als Strafe inszeniert, im Gegenzug für serbische Partisanenangriffe auf die deutschen Besatzer. Die Sühnequote belief sich auf 100 Zivilisten für je 1 Wehrmachtssoldaten. Als Gefangene hinter Stacheldraht waren sie leichter zu bekämpfen als die Partisanen selbst. So starb mein Großvater an Wehrmachtskugeln, sozusagen als Partisan. Zasavica, ein idyllisches Dorf am Saveufer war für mich der emotionale Höhepunkt unserer Reise in die Vergangenheit. In Zasavica, unweit vom Ort der Erschießungen, stehen mehrere Grabmäler. Am auffälligsten präsentiert sich das älteste: ein Grabstein mit orthodoxem Kreuz und dem Partisanensymbol Hammer und Sichel. Eine versöhnende Ironie des Schicksals: dieser Mann, mein Großvater, der seinen Sohn, meinen Vater, seiner politischen Aktivitäten wegen kritisiert hatte, wurde hier mit dem Symbol des Widerstandes geehrt. Eingraviert in den Stein die serbischen Worte „den Opfern des deutschen Terrors 1941–44“ (Zertvata nemackot terrora 1941–44). An diesem Ort der Erinnerung wurden mehrere Reden gehalten, Kränze niedergelegt und tausend Tränen geweint. Besonders ergreifend war die kurze Ansprache einer Enkelin, die aus Israel gekommen war, um auch ihren Großvater zu begrüßen und sich von ihm zu verabschieden. Sie sprach von der Wichtigkeit des Erinnerns, von ihrer Bewunderung für den Mut der Flüchtenden und von der Trauer und Sehnsucht des Kindes nach der Umarmung und den Trost der Großeltern. „Lieber Opa Albert, liebe Oma Blanka”, sagte diese Frau am Trauerort zu ihren Vorfahren, dem Wiener Lehrer Batschka und seiner Frau. „In den Träumen meiner Tage und Nächte habe ich auf den Tag gewartet, an dem ich Opa und Oma werde sagen können. In euer Namen möchte ich dafür beten, dass kein Kind auf dieser Erde das erleben soll, weil Großeltern und Enkel doch ein natürlicher Lebenszyklus sind.” Alle, auch mein Vater und meine Tante, öffneten sich hier ihrer ganz persönlichen Erinnerung. Nicht nur einige wenige jüdische Enkel und Enkelinnen standen ergriffen um diese kranzgeschmückten Grabsteine. Auch etwa 50 jugoslawische Roma waren da, auch sie im Gedenken an Eltern und Großeltern, die gemeinsam mit den Juden aus Wien erschossen worden waren. Sie appellierten an die jüdischen Besucher und Organisationen, weil ihnen – in aller Ungerechtigkeit – die Einreise nach Deutschland verwehrt werde, so dass sie, im Gegensatz zu den jüdischen Nachkommen Archive, Gedenkstätten und Lager, in denen ihre Familien umgekommen waren oder ihrer gedacht wurde, nicht besuchen können. „Tut etwas für uns, helft uns”, baten sie. Vorhang: Im Speisesaal des Hotel Palace im Zentrum von Belgrad sitzen spätabends ein gutes Dutzend Leute zusammen, die sich bisher nicht kannten. Sie haben auch keine gemeinsame Sprache. In einer Art Deutsch, Englisch, Iwrith und allerlei Mischungen davon, berichtet man, wer man ist, woher man kommt. Eines hat man gemeinsam: Alle haben eine Beziehung zu Wien und zum missglückten Versuch von dort doch noch wegzukommen. Hier im kriegsgezeichneten Belgrad werden Familienfotos und Familiengeschichten herumgereicht. Man erzählt einander, was man jeweils über die Details der kollektiven Flucht weiß. Für einen kurzen Augenblick ist die Geschichte gegenwärtig. Die Großeltern und Eltern stehen als Personen im Raum.