Literatur spielt in den Ländern Lateinamerikas eine große Rolle. Bisher haben sechs lateinamerikanische Autorinnen und Autoren den Nobelpreis für Literatur erhalten. Und – was wenig bekannt ist – auch der jüdischen Literatur kommt große Bedeutung zu.
Von Margarita Godina
Die Liste der Nobelpreisträger umspannt verschiedene Jahrzehnte sowie Länder: Aus Chile Gabriela Mistral (1945) und Pablo Neruda (1971), aus Kolumbien Gabriel García Márquez (1982), aus Mexiko Octavio Paz (1990), aus Peru Mario Vargas Llosa (2010) und aus Guatemala Miguel Ángel Asturias (1967). Die jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Lateinamerikas setzen in ihren Werken besondere Akzente. Sie diskutieren das Thema Identität und dabei nicht nur Fragen zur „Jüdischkeit“ und ihre Situation als Minderheit in lateinamerikanischen Gesellschaften, sondern reflektieren auch die lateinamerikanische Kultur.
Vom Journalismus kam Alberto Gerchunoff (1889-1950) zur Literatur. Seine Eltern emigrierten aus dem zaristischen Russland in die „Hauptstadt“ der jüdischen landwirtschaftlichen Siedlungen Argentiniens, nach Moisés Ville, die von russischen Einwanderern gegründet worden war. Nach dem tragischen Tod seines Vaters – er wurde von einem Gaucho getötet – zog die Familie in die Kolonie Rajil, die der Philanthrop Baron Maurice de Hirsch als Zufluchtsort für Juden gegründet hatte, die vor Pogromen aus Osteuropa fliehen mussten.
In Buenos Aires begann Gerchunoff seine Karriere in jungen Jahren als Journalist für die Zeitung La Nación und wurde Herausgeber zahlreicher anderer Zeitungen und Zeitschriften. In seinen Romanen thematisiert er das jüdische Leben in Lateinamerika. Er beschreibt die Entstehung jüdischer Kolonien in Argentinien und dokumentiert damit eine Bewegung, die ihre jüdischen Wurzeln zurückgewinnen wollte, indem sie ihre historische Lebensweise, eine Kultur der Landwirtschaft und Viehzucht, wiederentdeckte. Die jüdischen Gauchos erzählt von einer Utopie, die darauf abzielte, den mythologisierten biblischen Kontext des Juden als Landwirt wiederherzustellen. Doch bald wurden jüdische Familien auch in ihrer neuen Heimat mit Pogromen konfrontiert. 1975 wurde die Premiere der Buchverfilmung von Jüdische Gauchos mit Handgranaten angegriffen. Die meiste Zeit seines Lebens befürwortete Gerchunoff den Weg der Assimilation der argentinischen Juden (er selbst hatte seinen Vornamen von Abraham in Alberto geändert), mit dem Aufstieg der Nazis änderte er aber seine Meinung Die letzten Jahre seines Lebens widmete Gerchunoff der Gründung des Staates Israel.
Clarice (Chaja) Lispector (1920-1977) ist die bekannteste brasilianische Schriftstellerin. In der Ukraine geboren, wurde sie ab den 1940er Jahren zu einer zentralen Figur der literarischen Avantgarde. Lispectors Eltern flüchteten vor Pogromen in die brasilianische Hafenstadt Recife, wo sie auch später hauptsächlich Jiddisch sprachen. In Rio de Janeiro studierte sie Jura. Ihr Roman Nahe dem wilden Herzen, den sie mit 23 Jahren veröffentlichte, wurde zu einer literarischen Sensation. Sie beschrieb darin die soziale Realität im Nordosten von Brasilien. Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete Lispector einen Katholiken, den Diplomaten Maury Gurgel Valente, mit dem sie bis zu ihrer Scheidung in verschiedenen Ländern lebte. 1959 kehrte sie nach Brasilien zurück. 1966 schlief die Schriftstellerin mit einer brennenden Zigarette ein, wobei ihr Körper erhebliche Verbrennungen erlitt. Neben ihren Büchern und Kurzgeschichten schrieb Lispector auch Chroniken – ein in Brasilien prestigeträchtiges Genre, das kurze Notizen zu einer Vielzahl von Themen in den Samstagszeitungen umfasst. Zentrale Themen in Lispectors Werk sind die Geheimnisse des Daseins, Schönheit und Leiden, mit einer Fülle von religiösen Anspielungen und Mehrdeutigkeiten – Charakteristika, die eine geheimnisvolle Aura um den Textkörper Lispectors schufen. Der brasilianische Journalist und Schriftsteller Otto Lara Resende beschrieb es folgendermaßen: „Seien Sie vorsichtig mit Clarice. Das ist keine Literatur. Das ist Zauberei.“ Lispector nährte die Atmosphäre des Geheimnisvollen: Sie machte ein Geheimnis um ihr Alter und ihre Herkunft, was zu einer posthumen Mythologisierung führte. Sie mochte keine Etiketten und nannte sich nicht einmal Schriftstellerin.
Auch der in Polen geborene Samuel Rawet (1929-1984) machte Brasilien zu seiner Heimat, nachdem er mit seinen Eltern im Alter von sieben Jahren nach Rio de Janeiro kam. Als einer der Pioniere der zeitgenössischen brasilianisch-jüdischen Literatur schrieb er Kurzgeschichten und Novellen, in denen er Themen wie Entfremdung, Migration und Identitätssuche nachging. Seine Protagonisten, die zwischen zwei Kulturen stehen, empfinden überall ihre Andersartigkeit. In seinen Büchern stellt er die allgemeine Vorstellung von Brasilien oder sogar ganz Lateinamerika als einheitliches kulturelles Gebilde in Frage. In einer der Erzählungen, Der Prophet, erlebt der bereits ältere Protagonist seine unendliche Einsamkeit und Entfremdung in dem neuen Land. Auch Rawet selbst lebte isoliert; er hatte keine Familie und reiste nur selten. Der Schriftsteller, Arzt und Professor Moacyr Scliar (1937-2011) stammte aus einer Familie jüdischer Emigranten aus Bessarabien, die 1919 nach Brasilien ausgewandert war. Seine Mutter arbeitete als Lehrerin. Sie war es, die Moacyr die ersten Geschichten erzählte, und bald darauf fing der Sohn an, selbst Geschichten zu erfinden und Skizzen davon seiner Familie und den Nachbarn zu zeigen. Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums arbeitete Scliar viele Jahre im Bereich der öffentlichen Gesundheit und verband dabei seine Arbeit mit der Literatur. 1973 veröffentlichte Moacyr seinen ersten Roman Die Ein-Mann-Armee. Diese satirische Dystopie ist von historischen Ereignissen inspiriert. 1928 schuf Stalin mit Birobidschan in Sibirien eine autonome Region für sowjetische Juden, der vom Ort des Exils zu einem Ort des Todes für viele Jüdinnen und Juden wurde. Der Protagonist des Romans, Meir Ginsburg, selbst ein Jude, der nach Brasilien immigriert war, will ein neues Birobidschan in der Nähe von Porto Alegre errichten. Da nur wenige seiner Mitmenschen diese Idee unterstützten, versucht er, seinen Traum vom Paradies auf Erden zusammen mit seinem Genossen, einem Schwein, und anderen tierischen Gefährten zu verwirklichen. Moacyr Scliar gestand einmal, dass er das Erzählen nicht aufgeben könne, da es für ihn eine Fortsetzung biblischer Parabeln bedeute. Bekanntheit erlangte er in Brasilien mit dem Buch Karneval der Tiere, das 1968 erschien. Eines seiner zentralen Themen sind Überlegungen zu den Schicksalen von Einwanderern, wobei er Humor mit sozialpolitischer Kritik vereint. Dazu sagte Scliar selbst: „Meine Texte führen nicht dazu, dass man sich vor Lachen schüttelt. Mein Humor bringt zum Lächeln und stimmt nachdenklich. Der jüdische Humor war immer eine Wappnung gegen das Verzweifeln”.
Die herausragende Schriftstellerin, Professorin, Literaturwissenschaftlerin und Forscherin Margo Glantz (geb. 1930) hat nahezu ein ganzes Jahrhundert erlebt. Glantz wurde in Mexiko in eine Familie von Emigranten aus Odessa geboren. Die Familie hatte geplant, in die USA zu ziehen, doch es fehlten die nötigen Dokumente, man landete schlussendlich in Mexiko. Ihr Studium der englischen und spanischen Literatur sowie Geschichte der bildenden Kunst und des Theaters, schloss sie mit einer Dissertation über die mexikanische Literatur ab. Obwohl Glantz tief in der mexikanischen Kultur verwurzelt ist und es selbst nicht mag als jüdische Schriftstellerin bezeichnet zu werden, bestätigt ihre Autobiografie Die Genealogien die bedeutende Rolle des Judentums in ihrem Leben und den unbestreitbaren Einfluss, den es auf ihre persönliche Identität und ihr Schaffen hatte. Margo Glantz verwebt nicht nur fragmentarische Erinnerungen ihrer Eltern in ihre eigene Geschichte über das Aufwachsen in Mexiko, sondern konstruiert auch einen Text über das kollektive Gedächtnis der Jüdinnen und Juden in Mexiko und ganz Lateinamerika..
An dieser Stelle könnten noch zahlreiche weitere spannende Autorinnen und Autoren genannt werden, wie etwa Isidoro Blaisten (1933 – 2004) oder Marcelo Birmajer (geb. 1966), doch soll dieser Artikel als Anregung dienen, sich der jüdischen Literatur Lateinamerikas anzunähern. Um mit den Worten Samuel Rawets aus seinem Buch Der Prophet zu enden: „Das Meer brachte traurige Erinnerungen und warf Rätsel auf. Einsamkeit über Einsamkeit. Er fragte sich selbst, über seine Fähigkeit, in einer Umgebung zu bestehen, die nicht mehr seine war… Und aus tiefstem Inneren ein bitterer, enttäuschender Geschmack. Die Tage häuften sich in der Routine; es war mühsam, samstags in der Synagoge zu sein. Das Gebetbuch lag offen (unnötig, denn auswendig murmelte er alle Gebete), er schloss die Augen vor den Intrigen und stellte es immer zur Seite, immer zur Seite. Auf dem Weg bewunderte er die auffälligen Farben der Schaufenster, die Wolkenkratzer, die sich im unaufhörlichen Rauschen der Autos verloren. Und in all dem lastete die Einsamkeit schwer auf ihm, der Geisteszustand, mit dem er keine Affinität fand“.