Der 7. Oktober 2023 war kein Einschnitt, sondern ein Bruch. Eine tektonische Verschiebung, die unsere Gegenwart neu sortiert hat. Innerhalb weniger Stunden zeigte sich, was viele von uns schon lange gespürt hatten: Dass es kein kollektives „Nie wieder“ gibt, das uns schützt. Dass der Antisemitismus nicht längst überwunden, sondern bestens integriert ist. Und dass jüdisches Leben in Israel wie in der Diaspora keine garantierte Sicherheit kennt.
Doch während der Bruch sich in Israel physisch manifestierte – im Massaker, in den Raketen, in der Gewalt – war er für uns in der Diaspora vor allem ein innerer. Ein Erkennen. Ein Verstummen. Ein Staunen. Und schließlich: ein Verständnis. Nämlich, dass die Zeit des Erklärens vorbei ist. Ich habe zehn Jahre lang versucht, Antisemitismus zu vermitteln. Ihn sichtbar zu machen. Ihn zu sezieren, zu benennen, einzukreisen. Ich habe es freundlich getan, aufklärerisch, analytisch. Und ich habe es wütend getan, verzweifelt, unnachgiebig. Es hat nichts genutzt. Und wer es heute noch immer nicht begreift, will es auch nicht begreifen.
Also ist nun etwas anderes dran. Etwas, das nicht von Zustimmung abhängt. Sondern von Selbstbehauptung. Von Klarheit. Von jüdischer Souveränität. Israel macht es gerade vor. Es fragt nicht nach, ob das, was es tut, gemocht wird. Es folgt nicht der Logik des globalen Anstands, sondern der des Überlebens. Und genau das ist unsere Aufgabe auch hier in Europa. Wir müssen aufhören, um Erlaubnis zu bitten. Wir müssen aufhören, uns anzupassen. Wir müssen aufhören, alles so zu formulieren, dass es nicht zu jüdisch klingt. Denn die Wahrheit ist: Viele haben ihre Kinder umgeschult. Haben ihre Namen auf Apps wie Uber geändert. Haben ihre Biografien verschwiegen.
Aber jüdisches Leben muss wieder mehr widerständig sein. Der Begriff „Zachor“ – erinnere dich! – ist kein nostalgischer Imperativ. Es ist eine Handlungsanweisung. Erinnerung im Judentum ist kein Archiv, sondern Gegenwart. Wer sich erinnert, weiß, woher er kommt. Und wer weiß, woher er kommt, kann entscheiden, wohin er geht. Das ist die jüdische Idee von Zukunft: nicht die Hoffnung auf Harmonie, sondern das Wissen um Verantwortung. Und daraus entsteht: Haltung. Handlung. Entscheidung.
Martin Buber schrieb: „Freiheit ist kein Geschenk, das man empfängt. Freiheit ist eine Entscheidung, die man trifft.“ Und genau das ist es: Nicht Märtyrertum, sondern Handlungsmacht. Nicht Opferidentität, sondern politische Realität. Nicht die Frage, ob wir verstanden werden, sondern ob wir bereit sind, Verantwortung für unser eigenes Dasein zu übernehmen – hier, heute, unter den Bedingungen, die nun einmal gelten.
Diese Bedingungen sind real. Sie sind existenziell. Sie sind konkret. Israel hat gemeinsam mit den USA vor wenigen Tagen eine unterirdische Anlage des iranischen Atomprogramms in Fordo angegriffen. Mit Präzision. Mit Entschlossenheit. Mit dem Wissen, dass Freiheit nicht gegeben ist, sondern verteidigt werden muss. Dieser Schlag war kein Akt der Aggression. Er war ein Akt jüdischer Widerständigkeit. Ein Signal an die Welt, aber vor allem an uns selbst: Wir sind nicht wehrlos. Wir lassen es nicht zu. Wir schützen unser Volk – auch wenn wir dafür allein stehen. Wir sind nicht hier, um gemocht zu werden. Wir sind hier, um zu bleiben. Um zu sprechen. Um zu schreiben. Und um unsere Kinder zu jüdischen Erwachsenen zu erziehen, die wissen, dass es nichts bringt, sich klein zu machen. Sondern dass Stärke kein Verrat ist. Sondern Überleben.
Wir müssen aufhören, darauf zu hoffen, dass sich das Gegenüber bessert. Dass Verständnis irgendwann zu Handeln führt. Denn die Wahrheit ist: Empathie ist kein politisches Programm. Und Solidarität kein Garant für Sicherheit. In den letzten Monaten wurde das deutlicher als je zuvor. Wer heute als Jude in Europa lebt, lebt in einem Spannungsverhältnis aus öffentlicher Isolation und privater Verhärtung. Man schützt sich, man zieht sich zurück, man rechnet mit dem Schlimmsten – und das nicht aus Paranoia, sondern aus Erfahrung. Wir haben nicht nur Angst. Wir haben recht.
In den letzten 25 Jahren hat NU genau das getan. Sich nicht angepasst. Nicht verzagt. Nicht geschwiegen. Sondern gestört. Gerieben. Geschrieben. Und genau deshalb sitzen wir heute hier. Weil dieses Magazin nicht nur über jüdisches Leben berichtet, sondern weil es selbst jüdisches Leben ist. Ausdruck einer Stimme, die sich nicht einschüchtern lässt. Ich wünsche mir, dass wir alle mehr NU werden. Lauter. Klarer. Eigenwilliger. Denn diese Zeit verlangt nicht nach Vermittlung, sondern nach Integrität. Nicht nach Appeasement, sondern nach Standhaftigkeit. Nicht nach Dialog, sondern nach Konsequenz.
Wir leben in einer Zeit, in der man sich entscheiden muss. Zwischen Anpassung und Aufrichtigkeit. Zwischen Zugehörigkeit und Wahrheit. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit. Ich entscheide mich für Wirklichkeit. Und für das, was wir Juden daraus machen. Denn wir waren nie nur Objekt der Geschichte. Wir sind immer auch Subjekt gewesen. Und jetzt ist die Zeit, es erneut zu sein. „Lasst uns Juden sein und Menschen – und sei es auch zum Schmerz der Welt“, schrieb Bertha Pappenheim. Ein Satz, der nicht alt wird. Weil er nicht anbiedert. Sondern aufrecht steht. Weil er nicht versöhnt. Sondern erinnert. Mazal tov, NU. Auf die nächsten 25 Jahre. Und auf alles, was wir noch sagen, schreiben und leben werden. Mögen unsere Stimmen nicht nur gehört, sondern getragen werden. Und mögen wir nie vergessen, dass unsere Existenz nicht Beweis, sondern Behauptung ist.