Die NSA-Affäre und Israel. Ein Gespräch mit der renommierten Terrorismusexpertin Anat Berko.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem (Text und Foto)
Das Sporthotel Kfar Makkabia in Ramat Gan atmet die Atmosphäre der Mittelmeermetropole Tel Aviv. Der Klavierspieler, der die Geräuschkulisse in der Lobby besorgt, stammt offensichtlich aus der ehemaligen Sowjetunion. Ein junger Geschäftsmann bedient sein iPad, lässig zurückgelehnt in einen der bequemen Clubsessel. Er kann seine Herkunft aus einem der anglophonen Länder nicht verleugnen. Auch die Bedienung kommt von weit her: Sie stammt aus Äthiopien. Mit großen Schritten eilt der ehemalige Oberrabbiner Israels, Meir Lau, dem Ausgang zu, vorbei an dem schüchtern wirkenden Portier und Sicherheitsmann, der mich nach Blickkontakt wortlos hatte passieren lassen. Meine Gesprächspartnerin, Anat Berko, ist – so hat mir bereits das Internet verraten – eine „weltbekannte Terrorismusexpertin“, Gastprofessorin an der George Washington Universität, Research Fellow am „International Institute for Counter-Terrorism“ des Interdisziplinären Zentrums in Herzliya. Es soll darum gehen, wie Israel mit den Enthüllungen der Spionagetätigkeit der amerikanischen National Security Agency (NSA) umgeht.
Wer sich abhören lässt, ist selbst schuld
Die Amerikaner haben Angst vor einem „Pearl Harbor im Datenraum“. Mit dem japanischen Überraschungsangriff auf den Pazifikhafen auf Hawaii hatte am 7. Dezember 1941 für die Amerikaner der Zweite Weltkrieg begonnen. Im Sommer 2011 warnte US-Verteidigungsminister Leon Panetta: „Unser nächstes Pearl Harbor könnte eine Cyberattacke sein, die unsere Energieversorgung, unsere Kommunikationsnetzwerke, unsere Sicherheits-, finanziellen und Regierungssysteme außer Gefecht setzt“. Die Financial Times stellt sich ein Szenario vor, das in etwa einer Katastrophe entspräche, die durch fünfzig Hurrikane gleichzeitig verursacht würde. Ein Schaden von 700 Milliarden US-Dollar wird prognostiziert, der das ganze Land wochenlang handlungsunfähig macht. All das könnte verursacht werden nicht etwa von einem souveränen, berechenbaren und greifbaren Staat, sondern von einer Terrorzelle, die im Iran, im Jemen oder in Afghanistan sitzt – oder auch über die ganze Welt verstreut, lediglich durch das Internet verbunden ist. „Jeder künftige Krieg“, unkt die Washington Post, „wird einen Hauch von Terror beinhalten – unsichtbar, anonym, verheerend.“ Deshalb haben die Amerikaner seit dem 11. September 2001 mehr als 500 Milliarden US-Dollar für nachrichtendienstliche Informationen ausgegeben. Die israelische Tageszeitung Haaretz errechnet, dass die USA ungefähr zehn Mal so viel für Spionage ausgeben wie für ihren Verteidigungshaushalt. 2013 werden amerikanische Geheimdienste 4,9 Milliarden Dollar für Operationen im Ausland verwenden.
Durch die Enthüllungen des Computerexperten Edward Snowden wurden im Frühsommer 2013 neue Ausmaße der amerikanischen Spionage vor allem auch gegenüber befreundeten Ländern und deren Staatschefs offenbar. Die Medien in Deutschland sind empört. Der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) arbeiten eng mit der NSA zusammen. Das ist kein Geheimnis. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) mutmaßt, dass das BfV „Informationen über in Deutschland ausgespähte Menschen weitergibt“. Vor allem bei Bundesbürgern, die in der DDR aufgewachsen sind, werden „unangenehme Erinnerungen an die Abhörwut der Stasi“ geweckt.
Ganz schlimm findet die SZ, dass die NSA Daten über Deutsche an Israel weitergegeben haben soll, was sich „zu stark zu Gunsten Israels auswirke“. Für die deutschen Kommentatoren ist das völlig unverständlich, weil doch davon auszugehen sei, dass Israel die Vereinigten Staaten „aggressiv“ ausspioniere, um – so vermutet ein „hochrangiger NSA-Mitarbeiter“ – deren „Einstellung zu Problemen im Nahen Osten zu erfahren“.
Die israelische Gesellschaft quittiert die deutsche Panik mit verständnislosem Schulterzucken. Dass jeder jeden auszuspionieren sucht, wird als gegeben vorausgesetzt. Die Aufregung in Europa wird in Israel – soweit überhaupt beachtet – als Naivität oder Heuchelei abgetan: Als würden europäische Geheimdienste nicht selbst alles daran setzen, um alles Mögliche zu hören, zu sehen und zu speichern. Premierminister Netanjahu soll selbst zu den Regierungschefs gehören, für deren Mobiltelefongespräche sich die NSA interessierte. In der Öffentlichkeit hat sich in Israel darüber niemand echauffiert. Wenn sich als tatsächlich erweisen sollte, dass die NSA Handygespräche des Premiers abgehört hat, würde man in Israel wohl eher über den eigenen Ministerpräsidenten lachen, der Geheimes am Telefon ausplaudert – oder sich über den eigenen Inlandsgeheimdienst aufregen, der nicht dazu in der Lage ist, dem Regierungschef abhörsichere Kommunikation zu ermöglichen. Wer sich abhören lässt, ist selbst schuld.
„Das könnte ein Terrorist sein!“
Anat Berko stammt aus einer Familie, die als Flüchtlinge aus Bagdad nach Israel gekommen sind. In Ramat Gan ist sie als eines von sechs Geschwistern aufgewachsen: „Ich erinnere mich noch, wie ich schon als kleines Mädchen lernen musste, dass man Dinge nicht einfach vom Boden aufhebt, nicht mit verdächtigen Gegenständen spielt.“ Sie erzählt, wie ihre Tochter sie einmal im Stadtbus auf einen Mann aufmerksam machte, der im Hochsommer einen Mantel anhatte: „Das könnte ein Terrorist sein!“ „In Europa oder Amerika fällt Kindern so etwas überhaupt nicht auf“, erklärt die eher schmächtig wirkende Mittfünfzigerin. „Wenn ich in ein Einkaufszentrum komme, erwarte ich, dass die Sicherheitsleute die Waffe in meiner Handtasche entdecken. Wenn die Privatsphäre meiner Handtasche nicht gründlich durchleuchtet wird, frage ich mich, wen sie sonst noch durchgelassen haben – vielleicht eine Selbstmordattentäterin?!“
Berko weiß, wovon sie spricht. Als die Mutter von drei Kindern sich nach 25 Jahren vom aktiven Militärdienst verabschieden ließ, trug sie nicht nur den Rang eines Oberstleutnants, sondern auch den Titel eines Doktors der Psychologie. Ihr Spezialgebiet: Frauen und Kinder als Selbstmordattentäter. Sie erklärt: „Ich wollte wissen, wie Menschen denken, die bereit sind, sich in die Luft zu sprengen.“ Um das herauszufinden, hat sie nicht nur die Größen des palästinensischen Terrors, wie etwa Scheich Ahmad Jassin, im Gefängnis interviewt. „Im Rahmen meiner Arbeit habe ich mich in eigenartigen Situationen wiedergefunden – wenn ich etwa eine Selbstmordattentäterin umarmt habe, die gestern noch eines meiner Kinder hätte töten können.“ Viele Leute sprechen über Terrorismus – Anat Berko hat Terroristen selbst berührt, tief gehende Beziehungen mit ihnen aufgebaut. Dabei kommt ihr zu Hilfe, dass sie nicht nur wie eine Araberin aussieht, ihre Muttersprache ist Arabisch. „Du verstehst uns“, hat ihr der auffallend rotbärtige Jerusalemer Hamas-Scheich Muhammad Abu Tir einmal attestiert. Berko weiß: „Diese Leute sind keine Verrückten. Dem Westen fehlt nur die Fähigkeit, sie zu verstehen.“
Heute bemüht sich die Kriminologin in Amerika und Europa ihren Studenten und Kollegen zu erklären, wie ihre muslimischen Mitmenschen denken. „Selbstmordattentäter sind smarter als die raffinierteste Smart Bomb.“ Sie will vermitteln: „Ein Feind ist nur zu besiegen, wenn er klar definiert ist!“ Berkos Feind ist der radikale Islam. Sie geht davon aus, dass sie als arabische Jüdin und israelische Offizierin der westlichen Welt mit ihrer Mentalität, ihrer Denkweise und ihren Erfahrungen ein wesentliches Handwerkszeug für die Zukunft an die Hand zu geben hat: „Den Europäern und Amerikanern fehlen bislang unsere Erfahrungen, um nachvollziehen zu können, wie wir denken. Aber in Amerika bringt man den Kindern in den Schulen bereits bei, sich bei einer Schießerei unter dem Tisch zu verstecken. Wir müssen unsere Kinder in Zivilübungen auf Naturkatastrophen und Terroranschläge vorbereiten.“
Anat Berko erinnert daran, dass deutsche Behörden die Terroristen vom 11. September 2001 kannten. Im Grunde hatte die westliche Welt alle Informationen an der Hand, um diese Anschläge zu verhindern. Engagiert fordert sie: „Ich erwarte, dass die Welt präventiv etwas tut! Wir haben nicht nur ein Recht auf Freiheit. Wir haben vor allem ein Recht auf Leben!“ Deshalb hat sie kein Problem, wenn sie selbst nach der Landung auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen von amerikanischen Sicherheitsbeamten gründlich untersucht wird. Allerdings glaubt die israelische Terrorismusexpertin nicht, dass die Sicherheitsprüfungen in Europa oder Amerika wirklich effektiv sind: „Ich bin überzeugt, es gibt weit klügere Methoden, als jemanden abzutasten. Wesentlicher ist zu wissen, welche Fragen gestellt werden müssen. Wichtiger als ein Körpercheck ist es, das Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln. Der Überprüfte muss überhaupt nicht das Gefühl haben, dass er einen Sicherheitscheck durchläuft.“ Illusionslos deutet die Psychologin an, dass Flugsicherheit in Zukunft nur durch eine totale Aufgabe der Privatsphäre garantiert werden kann. Es ist heute schon technisch möglich, Bomben herzustellen, die kein Körpercheck findet. „Die Amerikaner machen sich Gedanken darüber, was alles operativ in den menschlichen Körper eingesetzt werden kann“, sinniert Berko, „aber das geht auch viel einfacher, etwa durch explosive Tampons.“