Von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg
Der Schabbestisch meines seligen Vaters, Oberrabbiner Dr. A. Eisenberg, war wie der Tisch bei einem chassidischen Rebbe. Da haben wir nicht nur das wunderbar gekochte Schabbesessen meiner seligen Mutter gegessen, sondern zwischendurch wurde sehr viel gesungen, aber es wurden auch weise Thoragedanken diskutiert. Mein Vater hat mich und meine Schwester geprüft, was wir im Religionsunterricht gelernt haben und selbst viele Weisheiten über den Thoraabschnitt der Woche preisgegeben. Die Musik war natürlich nur gesungen und enthielt sogenannte Semirot, also Schabbatgesänge von verschiedenen chassidischen Rebbes, die uns mein Vater schon als Kleinkinder beigebracht hat.
Aber er hatte auch eine wunderbare Sammlung von Schallplatten von großen Kantoren, die wir manchmal gemeinsam gehört haben. Darunter waren auch einige chassidische Schallplatten, sofern man sie irgendwo erstehen konnte. Es gab in Wien einen chassidischen Rabbi aus Ungarn, der einmal im Monat zu meinem Vater kam, der ihn auch finanziell unterstützte. Einmal erzählte ihm mein Vater, dass er einen Plattenspieler und viele kantorale Gesänge habe. Worauf der Rabbi zu meinem Vater meinte: „Ich würde gern ein Stück hören, aber nur vom Kantor Jossele Rosenblatt. Denn dieser war ein frommer Mann, und die anderen waren es weniger.“
Eines der berühmtesten kantoralen Stücke war ein Gebet zu Jom Kippur – natürlich nicht in der Synagoge aufgenommen, sondern in einem Studio. Es war aber nicht von Jossele Rosenblatt, sondern von dem ebenfalls großartigen Zevulun Kwartin, der aber die Qualifikation des Rabbis nicht erfüllte. Mein Vater legte diese Platte auf, die Nadel begann ein wenig zu kratzen, der Rabbi machte seine Augen zu und schaukelte im Takt. Mit Tränen in den Augen sagte er zu meinem Vater: „Seht Ihr, mein lieber Freind. So davenen kann nur a ehrlicher Chasen.“
Einmal, in den frühen 1960er Jahren, kam ein amerikanischer Rabbiner zu meinem Vater und brachte ihm eine Langspielplatte mit. Er erklärte, der Sänger wäre ein gewisser Shlomo Carlebach, der wunderschöne Gebetstexte mit zeitgenössischen Melodien kombiniert habe und ein großer Star in Amerika wäre. Ich war so begeistert von dieser Musik, dass ich die Schallplatte zweimal – und zwar zweimal täglich! – anhörte. Es war kein Jazz, kein Rock und auch kein Pop. Sondern je nach Inhalt des Textes waren es langsame oder etwas schnellere Melodien, ähnlich den traditionellen chassidischen Liedern, aber eben doch anders, ein Mittelding zwischen chassidischen und modernen Klängen. Vielleicht würde Soul als Beschreibung am besten passen.
Ein oder zwei Jahre später gab Rabbi Shlomo Carlebach sein erstes Konzert in Wien. Mein seliger Vater und ich saßen in der ersten Reihe, und Shlomo Carlebach forderte das Publikum auf, mitzusingen. Ich war damals zwölf und der Einzige im Saal, der seine Lieder gut kannte. Er war begeistert von meiner Begleitung und frage mich in der Pause in seinem wunderbaren Deutsch, woher ich seine Melodien kannte. Ich erzählte ihm stolz, ich sei der Einzige in Wien mit einer Schallplatte von ihm.
In Wien gab es einen jüdischen Buben, der aufgrund einer Behinderung nicht zum Konzert kommen konnte. Seine Mutter rief Shlomo Carlebach im Hotel an und fragte, ob er zu ihrem Sohn nach Hause kommen und ein Lied singen würde. Shlomo Carlebach ging hin und sang eine Stunde für dieses kranke Kind.
Zu dieser Zeit machte Shlomo Carlebach bereits Konzertreisen in aller Welt, im deutschen Sprachraum war Wien seine wichtigste Tourneestation. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sein Berliner Vater einige Jahre der orthodoxe Rabbiner von Baden war. Shlomo Carlebach machte noch in Baden seine Bar-Mizwa, ehe er mit seinen Eltern flüchten musste. Er wurde streng orthodox erzogen und lebte ein traditionelles jüdisches Leben. Er war sehr tolerant, und viele junge Juden in seinem Publikum wussten nichts von der jüdischen Tradition. Doch mit seinem Mix aus jüdischen Liedern und chassidischen Weisheiten konnte er viele wieder für das jüdische Leben begeistern.
Einmal erzählte er mir folgende Geschichte: Eine Frau äußerte in ihrem Reisebüro den Wunsch, nach Kuta zu fahren. Der Mitarbeiter sagte, das wäre nichts für sie. Aber sie bestand darauf. In Kuta angekommen meinte sie, dass sie gern den Guru treffen würde. Wieder sagte man ihr, das sei nichts für sie, doch sie bestand darauf. Also teilte man ihr mit, zur Vorbereitung für dieses Treffen müsse sie zweimal täglich im Ganges baden. Und wenn sie dann zum Guru vorgelassen werde, dürfe sie genau drei Worte an ihn richten. Als es schließlich so weit war, ging sie zum Guru, gab ihm eine schallende Ohrfeige und sagte: „Come Home!“
Im Chassidismus gibt es einen Ausdruck, der heißt „dos pintele jid“, was bedeutet, dass in einer jüdischen Seele immer noch eine ganz kleine Flamme brennt, die man durch moralische jüdische Lieder und Gedanken wieder entfachen kann. Einmal gab es in Indien ein internationales Meeting, an dem Mitglieder asiatischer Religionen und Kulte eine Woche lang teilnahmen und feierten. Interessanterweise beschloss Shlomo Carlebach, dorthin zu fahren. Als ihn manche seiner Freunde fragten, was er dort zu suchen habe, antwortete er: „Ich war der einzige Jude dort. Nach einer Woche allerdings hatte ich im Gepäck hunderte Adressen, die mit mir Kontakt gesucht haben und zum Judentum zurückgekehrt sind.“
Einmal, als er an einem Samstagabend ein Konzert in Wien gab, war er schon vor Schabbat in Wien und betete in einer kleinen Synagoge vor. Der damalige Präsident unserer Gemeinde wunderte sich, warum er nicht in den Stadttempel gekommen war. Bereits damals hat sich etabliert, dass Shlomo Carlebach aus seinen Freitagabend-Gottesdiensten eine eigene Art musikalischer und spiritueller Orte machte. Ich war überall dabei.
Er hat zirka zwanzig Schallplatten eingespielt, eine besonders gelungene ist ein Konzertmitschnitt gemeinsam mit Edek Bartz in Wien. Bei den ersten Platten fehlten die Zwischengeschichten, anders als bei späteren Aufnahmen und Konzertmitschnitten. Denn bei Konzerten erzählte er zwischen den einzelnen Liedern immer chassidische Geschichten, die oft damit endeten, dass er die Urenkeln der berühmtesten Rabbis auch persönlich kannte. Eine der Geschichten geht so: Ein armer Jude kam in ein Schtetl und suchte einen Platz für Schabbes. Die meisten Leute wiesen ihn ab, schickten ihn aber an den Rand des Dorfes, denn da würde ein großer, kluger Rabbi leben. Der arme Jude ging dorthin, bekam einen Platz am Schabbestisch, man aß. Aber es passierte nichts Geistvolles. Ehe er ging, sagte der arme Jude zum Rabbi, er sei erstaunt, denn er habe gehört, er sei ein weiser und gerechter Mensch. Ob er ihm nicht eine Weisheit mitgeben könnte? Da sagte der Mann: „Mein Vater war dünn und klein. Als ich ein Kind war, kamen die Kosaken, banden meinen Vater an einen Baum und zündeten ihn an. In zwei Minuten war von ihm nichts mehr da. Da sagte ich zu mir: ‚Es wird der Tag kommen, an dem die Kosaken auch zu mir kommen werden, wie zu meinem Vater. Sie werden mich auch an einen Baum binden und anzünden. Ich esse deshalb so viel, weil ich möchte, dass die Flammen nicht in einigen wenigen Augenblicken weg sind, sondern bis zum Himmel lodern und weithin sichtbar sind, wenn sie mich auslöschen‘.“
In Israel gründete Shlomo Carlebach eine Siedlung. Da verbrachte er mehrere Monate im Jahr, wenn er nicht gerade auf Tournee war oder in New York die Synagoge seines Vaters betreute. Inzwischen hatte er geheiratet und zwei Töchter. Als Shlomo Carlebach im Jahr 1994 verstarb, wurde er nach Israel gebracht und dort beerdigt. Er hatte im Laufe seines Lebens ganz gut verdient, aber sein Geld immer mit armen Leuten geteilt, sodass kaum mehr etwas für das Ticket übrig war. Noch während der Schiv‘a, also der Trauerwoche, war ich in Israel und bin in diesen Moschav gefahren, weil ich seine Witwe und die beiden Töchter besuchen wollte. Ich kam um etwa elf Uhr an. An der Tür war ein Zettel geschrieben: „Bitte nicht vor ein Uhr kommen.“ Ich konnte mir das zuerst nicht erklären, aber dann fiel mir ein, dass viele Besucher der Trauerwoche erst am Abend kommen und sicherlich lange bleiben würden, sodass die Familie auch erst spät ins Bett kam. Jetzt war ich im Dilemma: Sollte ich sie etwas früher aufwecken, um sie zu trösten, was eigentlich auch eine Mizwa, ein Gebot, ist. Oder sollte ich sie schlafen lassen? Da überlegte ich, was Shlomo tun würde. Und entschloss mich, sie schlafen zu lassen und ihnen einen Zettel zu hinterlassen, auf denen ich ihnen mein Beileid ausdrückte.
Besonders stolz bin ich darauf, dass er einmal bei mir zu Hause einen Schabbat-Ausgang gefeiert und dabei eines seiner bekanntesten Lieder komponiert hat.