Warum meine Tochter keine Bat Mitzwah wie ihre Brüder feierte — und warum das in meinen Augen die bessere Lösung war.
Von Miriam Tenner
CONTRA Als wir vor einigen Jahren mit den Vorbereitungen zur Bar Mitzwah unserer Söhne begannen, wurde dies sehr bald zum Familienthema, dem sich keiner von uns entziehen wollte und konnte. Die Vorfreude auf einen ganz besonderen Tag erfasste nicht nur uns und unsere Söhne, sondern auch ganz speziell unsere damals zehnjährige Tochter.
Unser Wissen über Bar Mitzwah war eine bunte Mischung aus jüdischem Allgemeinwissen, persönlich erlebter und gelebter Tradition als auch individueller Einstellung zum Thema Thora und jüdischer Erziehung. Ich wurde traditionell jüdisch erzogen und erinnere mich gut wie mein Vater, der selbst aus einem streng orthodoxen Elternhaus stammte, mir von seiner Bar Mitzwah erzählte: „Ich ging ab dem Alter von drei Jahren in den Cheder, das heißt das Lernen von Talmud Thora war eine tägliche Angelegenheit und meine Bar Mitzwah, mein Aufruf zur Thora, war daher nur die logische Fortsetzung, dass ich ab nun im religiösen Sinne volljährig und eigenverantwortlich war.
Eine besondere Feier zu diesem Anlass gab es in unserem Stetl nicht, sondern man hat Kiddusch gemacht, Smires gesungen und das war es.“ Eine Bat Mitzwah zu feiern war in dieser Welt völlig undenkbar und auch in den jüdischen Nachkriegsgemeinden, die stark von den Überlebenden des osteuropäischen Judentums geprägt waren, absolut unüblich. Da alle meine Freundinnen keine Bat-Mitzwah-Feier hatten, ist mir auch gar nicht in den Sinn gekommen, dass es sich hier möglicherweise um ein Defizit zu meinen Ungunsten handeln könnte.
Vor kurzem hatten uns Freunde zu der Bat Mitzwah Feier ihrer Tochter bei Or Chadasch eingeladen. Die Freude und Begeisterung darüber, dass sie als Mädchen gleich einem Burschen zur Thora aufgerufen wurde und den Wochenabschnitt vortrug, war spürbar, dennoch fühlte ich mich nicht „heimisch“ und der Begeisterungsfunke wollte nicht überspringen.
Ich erinnerte mich an die Bat Mitzwah meiner Tochter. Im Gegensatz zu meiner Jugend ist heute eine entsprechende Feier in unserer traditionellen Gemeinde selbstverständlich. Und im Sinne der gleichen Wertschätzung für alle unsere Kinder war auch klar, dass sie ihre Bat Mitzwah haben sollte und musste. Den religiösen Rahmen hierfür legten wir gemeinsam mit unserem Rabbiner Paul Eisenberg fest. Es war uns wichtig, sowohl die Gesetze der Thora als auch unser Anliegen zu berücksichtigen, für unsere Tochter etwas Gleichwertiges – aber nicht Gleichartiges – zu schaffen. So kam es, dass sie als erstes Mädchen ihre Bat Mitzwah im Wiener Stadttempel feierte. Nein, sie ist nicht am Schabbat zur Thora aufgerufen worden, sondern es gab eine spezielle Zeremonie am Freitagabend, bei der sie das Schma sowie ein besonderes Bat- Mitzwah-Gebet aufsagte und auch eine Drascha hielt. Or Chadasch ist laut Eigendefinition gleich „progressives Judentum“. Nun, wenn ich „progressiv“ richtig verstehe, dann bedeutet das „stufenweise fortschreitend“. Dann ist wohl die Frage zulässig: Von welcher Stufe gehe ich aus? Und ist nicht jede Veränderung ein stufenweises Fortschreiten? Ihre Bat Mitzwah in unserem Stadttempel war meiner Auffassung nach ein sehr progressiver Ansatz, und wir waren sehr stolz auf unsere Tochter. Sie selbst sagt rückwirkend, dass dieser Moment im Tempel sicher einer der aufregendsten in ihrem Leben war.
Religion lebt viel von Symbolik. Mir erschien der Ablauf des Or-Chadasch-Gottesdienstes wie eine Inszenierung vor Publikum, ähnlich wie in einer Kirche. Es war nicht der mir vertraute Rahmen, der mir die Möglichkeit bietet, mich vom Weltlichen zurückzuziehen und zu einer inneren Ruhe und Spiritualität zu finden. Kurz, mein Herz wurde nicht angesprochen. Die Anpassung an den Zeitgeist und die Umgebung geht für mich zu Lasten von dem, was ich unter „Jüdischkeit“ verstehe und erleben möchte, wenn ich in den Tempel gehe. Die Gleichberechtigung der Frau, umgesetzt in der Form, dass ein Mädchen mit 13 Jahren ihre Bat Mitzwah genau wie ein Bursche mit dem Aufruf zur Thora feiert, erscheint mir zwar gleichartig, aber nicht im Sinne der Thora gleichberechtigt. In der Medizin weiß man seit kurzer Zeit, dass Frauen nur dann gleichberechtigt behandelt werden, wenn ihre Behandlung nicht gleichartig, sondern „genderspezifisch“ ist. Nun, ich stehe zu einer „genderspezifischen“ Bar und Bat Mitzwah und bin meinen Freunden, die mich zu Or Chadasch eingeladen haben, sehr dankbar, da ich für mich mehr Klarheit gefunden habe, wo ich mich zu Hause fühle – und das ist ein traditionell orthodoxer Rahmen.