Dariusz Stola leitet seit der Eröffnung im Jahr 2014 das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin). Über das beliebte Museum in Warschau sprach er mit Michael Laczynski.
NU: Im Westen wird Polen als ein Land gesehen, das sich vor Zuwanderung fürchtet und ethnisch homogen bleiben will. Stimmt diese Außensicht mit der Wirklichkeit in Polen überein?
Dariusz Stola: Historisch betrachtet ist diese Homogenität ein relativ neues Phänomen, die meiste Zeit über war die polnische Bevölkerung vielfältig. Das Museum der Geschichte der polnischen Juden macht genau darauf aufmerksam. Aber die von Ihnen angesprochenen Befürchtungen gibt es in Polen in der Tat, und sie sind im Zuge der Flüchtlingskrise im Vorjahr stärker geworden. Einerseits arbeiten hier hunderttausende Migranten aus der Ukraine, was bei der Bevölkerung keine negativen Reaktionen auslöst, andererseits aber werden Flüchtlinge aus dem Nahen Osten abgelehnt.
Der Eindruck, dass die Polen von heute mit ihrer Homogenität recht zufrieden sind, täuscht also nicht …
… aber nur, weil ihnen 50 Jahre lang eingeredet wurde, das sei eine gute Sache. Und zwar sowohl von den Kommunisten als auch von den Antikommunisten und dem Klerus. Unser Museum ist ein Versuch, in diese hermetisch dichte, imaginäre Gemeinschaft etwas frische Luft reinzulassen. Zu zeigen, dass Vielfalt Teil der polnischen Vergangenheit ist und mit Polens historischer Größe direkt zusammenhängt. Diese Sicht der Dinge ist die Antithese zum nun vorherrschenden Narrativ, wonach Vielfalt eine Bedrohung ist. Unsere Botschaft lautet: Nicht die Vielfalt ist das Problem, sondern der Umgang mit ihr. Für meine Landsleute, die sich vor Fremden fürchten, ist das eine neue und überraschende Erkenntnis.
Das historische Polen war multiethnisch, es gäbe also Potenzial für eine positive Veränderung der Haltung.
Am Höhepunkt der geografischen Ausbreitung Polens machten die Römisch-Katholiken weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Eine der größten Errungenschaften des polnisch-litauischen Staates war die Etablierung von Spielregeln, die das Potenzial ethnisch-religiöser Konflikte minimierten. Genau diese Erfolgsstory beschreiben wir in unserem Museum. Die Juden waren in Polen zwar dem Adelsstand nicht gleichgestellt, hatten aber einen relativ gut abgesicherten rechtlichen und ökonomischen Status. Mehrere Jahrhunderte lang funktionierte das System sehr gut, dann brach es im Angesicht des aufkeimenden modernen Nationalismus in sich zusammen.
Inwieweit ist diese relativ weit entfernt liegende Vergangenheit für die polnische Gegenwart relevant?
Die Geschichte der Juden in Polen reicht zwar zehn Jahrhunderte zurück, doch sie ist nicht zu Ende. Unsere jüngsten Ausstellungsstücke stammen aus dem Jahr 2014. Und dass die Vergangenheit Lehren für die Gegenwart bereithalten kann, sehen wir ausgerechnet jetzt, wo Xenophobie und Rechtsradikalismus trotz jahrelangem Wirtschaftswachstum zunehmen. Unsere Ausstellung und Bildungsangebote sind heute notwendiger denn je.
Geschätzte zwei Millionen Polen leben und arbeiten im EU-Ausland, es gibt unabhängige Medien und eine vitale Zivilgesellschaft. Ist ein patriotischer Schulterschluss gegen Kritik von außen, den die Rechtskonservativen in Polen anstreben, unter diesen Bedingungen überhaupt möglich?
Ich fürchte ja. In Zeiten wachsender Unsicherheit – und diese Beschreibung trifft auf ganz Europa zu – fällt es leicht, Ressentiments gegenüber Fremden zu schüren und ihnen böse Absichten zu unterstellen. Ich habe die Propagandakampagne der polnischen Kommunisten im Jahr 1968 untersucht, als es dem Regime gelungen war, westliche Kritik am Antisemitismus in Polen als Angriff auf das Volk darzustellen. In Polen gibt es einen starken Patriotismus, der als Loyalität gegenüber der Heimat verstanden wird – mit ein Grund, warum es gelungen ist, den Kommunismus zu stürzen. Damals ging es ja nicht nur darum, einer x-beliebigen Diktatur die Stirn zu bieten, sondern einer aus Moskau gelenkten Diktatur.
Das Museum ist seit knapp zwei Jahren geöffnet. Wie fällt Ihre Bilanz bisher aus?
Seit der Eröffnung im Oktober 2014 hatten wir mehr als 400.000 Besucher. Anfangs waren es hauptsächlich Warschauer, doch bereits im Sommer 2015 machten Ausländer mehr als die Hälfte unserer Gäste aus – vor allem aus Israel, Deutschland und den USA. Für Rückenwind sorgen die zahlreichen positiven Bewertungen auf Online-Plattformen wie Tripadvisor sowie Auszeichnungen – vor wenigen Wochen haben wir den prestigeträchtigen European Museum of the Year Award erhalten. In Warschau sind wir mittlerweile das zweitbeliebteste Museum hinter dem Museum des Warschauer Aufstandes. Das ist erstaunlich, denn die polnischjüdische Geschichte ist keine leichte Kost. Ich kann Ihnen noch nicht definitiv sagen, was genau unsere Anziehungskraft ausmacht – vielleicht die Vielfalt und der Reichtum unserer Vergangenheit. Ein von uns befragter Besucher hat auf die Frage, was ihn am meisten beeindruckt hat, geantwortet: „Ich wusste nicht, dass die Vergangenheit so groß ist.“ Für mich als Historiker ist das Balsam für die Seele.
Dariusz Stola, Jahrgang 1963, leitet seit März 2014 das Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin) in Warschau. Als Historiker und Buchautor befasste er sich unter anderem mit den Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert, dem Holocaust und den polnisch-jüdischen Beziehungen. Stola ist Mitglied des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte, Ritter des Ordens Polonia Restituta und Mitglied des Nationalen Entwicklungsrates des polnischen Staatspräsidenten.