Wie die gebürtige Linzerin Grete Mostny, aus rassistischen Gründen 1938 vertrieben, in Chile zur Doyenne der Archäologie und der Museologie wurde.
Von Linda Erker
Im März 2020 demonstrierten in Chile Hunderttausende gegen die politischen Missstände im Land. Die spanische Zeitung El País veröffentlichte eine Bilderserie aus Santiago de Chile und schrieb: „Die Aktivistinnen haben die Namen der Denkmäler durch die von Frauen ersetzt, die den feministischen Kampf in Chile inspiriert haben, wie die in Österreich geborene Wissenschaftlerin Grete Mostny.“
Wer war diese Frau? Wie wurde sie zur gefeierten chilenischen Forscherin? 1914 in eine wohlhabende jüdische Unternehmerfamilie in Linz geboren, ging Grete Mostny 1933 nach Wien, um an der Universität Wien Archäologie zu studieren. Sie sog auf, was das Fach zu bieten hatte: eine interdisziplinäre Verschränkung aus Afrikanistik, Anthropologie, Ethnologie, Orientalistik und Urgeschichte. Diese Interdisziplinarität prägte Mostnys Forschungen ein Leben lang. Ihr Berufswunsch war, Wissenschaftlerin zu werden; zugleich war klar, dass sie es als Frau im androzentrischen Unibetrieb Österreichs schwer haben würde: Bis dahin war noch keine Frau zur ordentlichen Professorin ernannt worden.
Von Wien nach Valparaíso
Nachdem Mostny im Wintersemester 1937/38 ihre Dissertation zur Kleidung der ägyptischen Frau eingereicht hatte, nahm sie mit einer Arbeitsgruppe der Universität Mailand an einer Exkursion ins ägyptische Tal der Könige teil. Als sie am 9. März 1938 nach Wien zurückkehrte, blieben ihr noch sechs Tage bis zu ihrem Abschlussexamen. Doch der „Anschluss“ kam ihr dazwischen. Die Universität Wien wurde nach dem 12. März gesperrt, und Mostny hatte keine Chance mehr, ihren Abschluss wie geplant zu machen. Zudem war sie von einem Tag auf den anderen durch die nationalsozialistischen „Rassengesetze“ als „Jüdin“ fremddefiniert. Ihre Mutter war jüdisch – und somit auch Grete Mostny, obwohl sie 1916 in Linz katholisch getauft worden war.
Mostny reagierte schnell, kehrte nach Mailand zurück, um dann aber 1939 an der Freien Universität Brüssel ihr Promotionsexamen auf Französisch abzulegen. Mit dem Doktortitel in der Tasche ließ sie Europa hinter sich und flüchte gemeinsam mit ihrer Mutter nach Chile, wo ihr Bruder schon auf sie wartete. Schon bei ihrer Überfahrt lernte Mostny einen Engländer kennen, der sie an den Direktor des Museo Nacional de Historia Natural, Richard Edward Latcham, empfahl und damit den ersten wichtigen Kontakt vermittelte: Latcham stellte Mostny prompt an, und ihre Karriere nahm rasant an Fahrt auf. Bereits 1943 wurde sie Leiterin der anthropologischen Abteilung. Ausschlaggebend dafür waren ihre Ausbildung in Europa und ihr großes Engagement am Museum, wie es in den Unterlagen heißt. Dazu kam, dass sich Chiles Wissenschaft in einer Modernisierungsphase und Aufbruchsstimmung befand. Mostnys Expertise wurde erkannt und gefördert, was nicht selbstverständlich war. Dass sie als Jüdin vor dem NS-Regime hatte flüchten müssen, spielte in Chile kaum eine Rolle.
1954 hatte Mostny dann ihren internationalen Durchbruch. Auf einem rund 5400 Meter hohen Gipfel der Kordilleren nahe Santiago de Chile wurde die Mumie eines achtjährigen Kindes gefunden worden, genannt „El Niño del Cerro El Plomo“. Das Kind war um das Jahr 1550 lebendig geopfert worden. Mostny sicherte den Fund und stellte ein interdisziplinäres Team zu seiner Erforschung zusammen. Die Studie erhielt internationale Aufmerksamkeit, handelte es sich doch um die erste gefriergetrocknete Inkamumie, die bis dahin wissenschaftlich untersucht worden war.
Managerin und Multiplikatorin
Nachdem Mostny knapp 20 Jahre die anthropologische Abteilung geleitet hatte und zur Professorin an der Universidad de Chile ernannt worden war, stieg sie 1964 zur Direktorin auf und trug wesentlich dazu bei, die Museumswissenschaften in Chile zu etablieren. Als Direktorin begründete sie an „ihrem“ Museum als Pionierin die Vermittlungsagenden, indem sie auch einen Wissenschaftskoffer entwickelte, der quer durch Chile die eigene Urgeschichte vermittelte. An ihre bahnbrechenden Leistungen erinnert ein Lehrstuhl, und ein chilenischer Museumspreis der ICOM (International Council of Museums) trägt ihren Namen. Sie vertrat Chile in unzähligen internationalen museologischen Gremien und wurde 1982, im Jahr ihrer Pensionierung als Museumsdirektorin, mit einem der höchsten nationalen Orden Chiles, dem „Mérito Docente y Cultural Gabriela Mistral“ ausgezeichnet. War Mostny auch unter Pinochet keine laute Mahnerin, so können ihre Forschungen zur Geschichte marginalisierter Gruppen und die Vermittlung der indigen Geschichte Chiles durchaus als politisch richtungsweisend bezeichnet werden.
Retrospektiv erklärte Mostny ihre Karriere so: „Die Universität Wien hat mich geformt, die Universität Brüssel perfektioniert, und die Universität Santiago de Chile hat mich aufgenommen, um an neue Generationen weiterzugeben, was ich von den vorherigen gelernt habe.“ Ihre Bildung war fraglos der Schlüssel, um in Chile Erfolg zu haben. Und vermutlich bot ihre Zwangsmigration eine Karrierechance, die sie in Wien als Frau und Jüdin nie erhalten hätte.
Als Grete Mostny 1991 in Santiago starb, hielt der chilenische Senat in ihrem Gedenken eine Schweigeminute ab, und bis heute ist in Chile die Erinnerung an sie lebendig: In Wissenschaftskreisen gilt sie als die Doyenne ihrer Zeit im Fach Ur- und Frühgeschichte und als wegweisende Expertin in den Museumswissenschaften. Auch die Zivilgesellschaft hat Mostny nicht vergessen, das zeigt sich sowohl auf Twitter und Instagram wie auch im öffentlichen Raum. „Ihr“ ehemaliges Museum ist dabei weiterhin eine wichtige Kommunikationsschnittstelle. Und bei den Protesten im März 2020 wurde der „Parque Quinta Normal“ zum „Grete Mostny Park“, um an die Langzeitdirektorin des Museo Nacional de Historia Natural zu erinnern.
Auch in Wien erfuhr sie in den letzten Jahren, mit etwas Verspätung, vermehrt Würdigungen: Seit 2013 verleiht die Universität Wien den „Grete-Mostny-Dissertationspreis“, und Mostny war unter den ersten sieben Wissenschaftlerinnen, die 2016 im Arkadenhof der Universität Wien eine Büste erhielten – neben anderen jüdischen Forscherinnen wie Lise Meitner, Charlotte Bühler oder Marie Jahoda.