Die Filmfestspiele von Cannes wurden heuer aufgrund der Coronapandemie in den Juli verlegt. Der israelische Regisseur Ari Folman wird mit seinem Animationsfilm über Anne Frank vertreten sein. Eine hoffnungsvolle Vorschau auf das Festivalgeschehen.
Von Gabriele Flossmann
Viele Menschen in Europa kennen kaum einen Juden persönlich. Wo der persönliche Kontakt fehlt, ist die Gefahr von Klischeevorstellungen groß. Als ob sie diesen bewusst entgegenwirken wollten, haben sich die großen europäischen Filmfestivals in Berlin, Cannes und Venedig bereits seit langem scheinbar verabredet, entsprechende Filme in ihren Wettbewerb aufzunehmen: Arbeiten, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, und neue Werke aus Israel waren stets Pflichtpunkte in den Programmen.
Filmemacher wie Amos Gitai, Ari Folman, Joseph Cedar, Assi Dajan oder Samuel Maoz traten als Preisträger ihre Siegeszüge durch die internationalen Kinos an. Ihre Filme setzten und setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit den Spannungen zwischen Juden und Palästinensern und mit dem Einfluss dieses Konfliktes auf familiäre Strukturen auseinander. Immer wieder werden von ihnen hoffnungsvolle oder düstere Visionen einer Zweistaatenlösung durchgespielt. Die israelische Filmkultur ist in jedem Fall eindrucksvoll. Israel ist zwar ein kleineres Land als Österreich, hat aber zwölf Filmschulen. Im vergangenen Jahr ist es allerdings still geworden. Kinos wurden geschlossen, Filmfestivals abgesagt.
Das gilt auch für das Festival von Cannes, das voriges Jahr nur in einer schmalen Version im Oktober stattfinden konnte – ohne Glamour und Stars. Denn die Côte d’Azur und damit auch die Croisette – die Strandpromenade als Herzstück von Cannes – galten und gelten als Risikogebiet. Als „Ironie des Schicksals“ bezeichnete deshalb Festivalleiter Thierry Frémaux den herbstlichen Versuchsballon, der demonstrieren sollte, dass Kunst und Kino (Über-)Lebensmittel sind. Und alles andere als ein bloßer Austausch von heißer oder gar von aerosolgeladener Luft. Entsprechend neidvoll blickte Fremaux auf Venedig, wo Festivalleiter Antonio Barbera das kurze Zeitfenster zwischen den Corona-Ansteckungskurven nutzte, um seine Festspiele stattfinden zu lassen.
Von Festivalatmosphäre konnte in Berlin auch heuer nicht die Rede sein. Der Berlinale-Wettbewerb fand im Februar online statt. Wer dann im Juli in Cannes bereit ist, über den roten Teppich zu laufen und im geschlossenen Kinosaal zu sitzen, wird jetzt schon gewarnt oder beruhigt: Alle Besucher müssen Desinfektionsschleusen passieren und die Temperatur messen lassen. Eine neuerliche Absage und damit eine leere Leinwand im Festivalpalast auch 2021 zu riskieren, wäre „nicht in Frage gekommen“, so Frémaux. Denn im Vorjahr haben die Filme, die online am Wettbewerb des Mini-Festivals teilnahmen, von den Festivalmachern nur ein sogenanntes „Cannes-Gütesiegel“ erhalten, um sich rühmen zu können, zur prestigeträchtigen Selektion gehört zu haben, obwohl sie auf keiner Festivalleinwand zu sehen waren. Auf der Webseite des Filmfests werden sie allerdings nicht erwähnt – auch kein Preisträger.
Doch Frémaux zeigt sich für den Juli optimistisch: „Cannes wird nach der Pandemie das erste große internationale Ereignis sein. So wie es vor dem zweiten französischen Lockdown das letzte war.“
Querkopf als Präsident
Eröffnen wird Annette von Leos Carax. Adam Driver spielt darin einen Stand-up-Comedian, Marion Cotillard gibt seine Ehefrau, eine erfolgreiche Sängerin. Als ihre Tochter geboren wird, „ein geheimnisvolles Mädchen mit einem ungewöhnlichen Schicksal“, ändert sich das Leben des Paares für immer. Annette ist der erste englischsprachige Film des Franzosen, der mit seinem extravaganten Epos Die Liebenden von Pont-Neuf bekannt wurde. Als Präsident der Jury wird Spike Lee erwartet, der seit Jahrzehnten vom Frust und der Wut der Schwarzen in den USA erzählt, von den Reibungen im Alltag. Der Oscarpreisträger ist vor allem für seine gesellschaftskritischen Filme rund um das Thema Rassismus bekannt, wie beispielsweise Malcolm X oder BlacKkKlansman, in dem er die wahre Geschichte des schwarzen Polizisten Ron Stallworth erzählt, der es mithilfe seines jüdischen Kollegen Flip Zimmerman schaffte, monatelang den Ku-Klux-Klan zu infiltrieren und dessen rassistische Machenschaften öffentlich anzuprangern.
Der Mann aber ist ein Querkopf geblieben – und weigert sich, in der unterfinanzierten Indie-Ecke zu kauern. Lee arbeitet mit großen Hollywoodstudios, er sucht die bestmögliche Finanzierung und Reichweite. Man darf also gespannt sein, wem er als Jury-Präsident die Goldene Palme überreichen wird – und mit welchen Worten. Er liebt die verbale Provokation, die daran erinnern soll, wie den Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten übel mitgespielt wurde und wird. Er mag aber nicht, wenn seine Filme als Megafone für griffige Slogans missverstanden werden. Dass die USA von seinen filmischen Botschaften immer wieder aufs Neue überrascht zu sein scheinen, liegt vermutlich auch daran, dass man Spike Lee im falschen Sinn als afroamerikanischen Filmemacher gesehen hat: als einen, der Geschichten für Schwarze erzählt, damit die sich auch mal in Hauptrollen sehen dürfen. So funktioniert die „vornehmere“ Variante der Rassentrennung. Anhand von Klischees – wie zum Teil auch der Antisemitismus.
Hohe Erwartungen
Darüber hinaus werden in Cannes unter anderem neue Filme von Wes Anderson und Paul Verhoeven erwartet. Weiters Jane Campions Familiendrama The Power of the Dog, Paolo Sorrentinos filmische Autobiografie The Hand of God, Andrew Dominiks Biopic Marilyn Monroe und ein Werk von Mia Hansen-Løve mit Christoph Waltz und Tim Roth. Als israelischer Regisseur könnte Ari Folman eine Chance haben – mit seiner Adaption der Tagebücher von Anne Frank. Folman hatte in Cannes schon 2008 mit seinem Waltz with Bashir Aufsehen erregt. Für diesen Dokumentarfilm hatte Folman ausführliche Interviews mit Soldaten geführt, diese mit einer Videokamera aufgezeichnet und sie dann als Flash-Animation nachzeichnen lassen. Das gab dem Filmemacher ungewöhnliche Freiheiten. Er konnte Träume und Fantasien illustrieren und sich den Fragen des Erinnerns und Vergessens spielerisch und kreativ widmen. Und er konnte damit auch auf das heute bei Dokumentarfilmen so weit verbreitete Re-Enactment, also fiktive Spielszenen, verzichten.
Folman, der in diesem Film selbst als gezeichnete Hauptfigur vorkam und dessen Originalstimme wie die der anderen Protagonisten im Film zu hören ist, meinte damals: „Von Anfang an sollte es ein animierter Film sein. Es gab einfach keine andere Möglichkeit für mich, diese Geschichte zu erzählen. Schließlich geht es um verlorene Erinnerungen und wie sie wiedergefunden werden, um Träume und das Unterbewusstsein. Da gab es für mich gar keinen anderen Weg, das auszudrücken.“
Angst und Sehnsucht
In Where is Anne Frank? arbeitet Ari Folman wieder mit den Mitteln von Animation und Trick. Einen Eindruck davon, wie der Film aussehen könnte, lieferte er 2017 mit einer Graphic Novel des Anne-Frank-Tagebuchs. Gemeinsam mit dem Autor David Polonsky übertrug er die Atmosphäre eines prekären Lebens im Versteck vom Originaltext kongenial in Bilder – das emotionale Auf und Ab, die Ängste, die Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. Ebenso zeigen die gezeichneten Bilder Anne Frank in den vielen Facetten, von denen sie selbst berichtet hat – und das immer wieder auf einfühlsame, keineswegs plakative oder reißerische Weise. Nichts wird dabei ausgeklammert, auch nicht die Sexualität, von der Anne unbefangen an ihre Freundin Kitty schrieb. Für Waltz with Bashir war Ari Folman für den Oscar nominiert – ging aber damals leer aus. Vielleicht bekommt er ihn für Where is Anne Frank? bei der nächsten Verleihung. Davor aber winkt – vielleicht – eine Palme in Cannes.